in Sulaymaniyah, Irak

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„Der letzte Granatapfel“ von Bachtyar Ali

Der Regisseur Stefan Otteni führte 2019 ein Tagebuch während der Proben und Aufführungen, um den Unterstützer:innen der SABUNKARAN THEATRE GROUP möglichst intensive Einblicke in die Arbeit vor Ort zu geben.

Wie geht es weiter?

Bei aller Liebe zu den großzügigen Industrieräumen der Alten Tabakfabrik, ist das Kloster Maryam Al Adhra und sein eigentlich viel zu kleiner Probenraum dort unser Rückzugs- und Heimatort geblieben. Dort haben wir auch nach der Premiere die besseren Proben gehabt zum Stück, das wir in den Flüchtlingscamps spielen, dort haben wir mit viel Nostalgie und angehaltenem Atem den Rohschnitt des Dokumentarfilms über die Theatergruppe gesehen: »Die Irakische Konferenz der Vögel«von Shahab Kermani, der uns vor zwei Sommern so geduldig mit der Kamera begleitet hat – und auch dieses Jahr kurz vorbeischaut: Ein paar inhaltliche Ergänzungen fehlen noch im fast fertigen Film. Schon in seiner jetzigen Fassung ist die Intensität spürbar, mit der der Film unsere Theaterarbeit verbindet mit Ritualen der Sufis und gleichzeitig der traurigen Wiederbegegnung eines Teils der Flüchtlingskinder mit ihrer zerstörten Heimatstadt Qaratein. Der Film, der aus hunderten Stunden Rohmaterial zusammengesetzt ist, wird ab 2020 zu den Filmfestivals Europas reisen.

Dort, in der Küche des Klosters, haben wir auch immer wieder zusammen gegessen, zum letzten Mal ein Tag nach der ersten Vorstellungsserie vom »Letzten Granatapfel«. Der Regisseur versuchte sich wieder einmal als Koch (kurdisches Hühnchen), unterstützt von Filmer Shahab (persischer Reis) und Schwester Friederike (deutsches Rotkraut). Die Stimmung ist ebenso ausgelassen wie erschöpft: Die Wochen der Proben und Vorstellungen haben alle Mitglieder der Gruppe bis aufs Äußerste gefordert.

Trotzdem sind sie alle da: Die Spieler, die Musiker, alle Übersetzer, das ganze Team hinter der Bühne. Ich nutze die Gelegenheit und bitte alle nach dem Essen und vor dem Nachtisch zu einer Besprechung in den Probenraum – es ist die letzte Gelegenheit vor meiner Abreise, um in der Gruppe offen zu diskutieren: Was war gut dieses Jahr, was nicht. Was machen wir nächstes Jahr? Was machen wir besser? 

In den Wortmeldungen wird sehr schnell klar, dass sich viele in der Gruppe nächstes Jahr nach einem Stoff, einer Arbeitsweise sehnen, die nicht nur Tod und Krieg verhandelt wie in Bachtyar Alis Roman dieses Jahr. Wir diskutieren die Bandbreite der Möglichkeiten: Konzentrieren wir uns mehr auf die Weiterbildung der Schauspieler:innen? Auf die Aufführungen in den Flüchtlingslagern? Auf ein neues Projekt mit improvisierten persönlichen Texten? Die Meinungen sind so verschieden wie die Lebenswirklichkeiten der Ensemblemitglieder. Eine Bemerkung, die mir bleibt, ist die von Mohammed, dem Lehrer und Sozialarbeiter, der mich bei den Proben immer wieder mit seinen wachen blauen Augen und seinem unerschütterlichen Humor gerettet hat: Er hätte oft nicht verstanden, was die Übungen und Tänze bezwecken, die wir der Gruppe zugemutet hätten, aber eins wäre in der Arbeit immer klar gewesen: »The group is the message«.Besser könnte ich es nicht sagen. Und ein besseres Lob für unsere Arbeit kann man sich nicht wünschen. 

Auch als ich formuliere, dass wir uns für nächstes Jahr – wenn die großzügige Finanzierung des Auswärtigen Amtes endet – ganz neu nach Geldern umsehen müssen und wir noch nicht wissen, wo, schreckt das erstmal keinen. Haben Sie einfach Vertrauen in uns oder ist ihnen das Geld egal?

Einer sagt dann noch, abseits der Sitzung, er wünschte sich nächstes Mal mehr von der Leichtigkeit, die bei den Proben doch auch immer wieder durchgeblitzt sei – zum Beispiel als ich immer wieder im Spaß angedroht habe: »Wenn es zu traurig in der Aufführung wird, werde ich selbst in einem Granatapfelkostüm auftreten und ganz schlecht singen und tanzen.«Ich frage mich noch wieso er sich ausgerechnet an diesen Moment erinnert, da drängen die Schauspieler, jetzt endlich zum Nachtisch zu kommen, das wäre doch sonst wieder so traurig, wenn wir »nur reden«. Wir gehen in die Küche, da steht eine Torte und mitten drauf ein Bild vom Regisseur – als Granatapfel verkleidet. Das wird dann teuer nächstes Jahr, denk ich noch. Dann muss ich anschneiden.

Stefan Otteni

Das Publikum im Ashti-Camp
© Jens Petzold

Das erste Gastspiel im Flüchtlingslager

Wer gedacht hat, nach der Premiere in der Alten Tabakfabrik ist endlich die größte Arbeit vorbei, der wird nach den Anrufen in den Lagern, in denen wir dieses Jahr wieder spielen wollen, eines Besseren belehrt. Wir hatten gehofft, nach den letzten Jahren hätte sich alles eingespielt und man müsse dort nur die alten Kontakte wiederbeleben, um die Tour zu organisieren. Das Gegenteil ist der Fall, die Flüchtlingslager haben natürlich nicht gerade auf unsere Theatergruppe gewartet: Im Barika Camp bei Sulaymaniyah wird der einzige Raum, der sich zum Spielen eignet, für uns erst ab 16 Uhr frei, im Ashti Camp in Arbat scheitern wir mit unserer Bitte, bei dem Wetter diesmal in einem überdachten Raum zu spielen (das einzige große Zelt wird für Nachschub gebraucht, der mit den neuen Rojava-Flüchtlingen dringend nötig ist), und in Qushtapa bei Erbil ist das anvisierte Theater zu klein und die staatlichen Genehmigungen für das Spielen im Camp kommen nicht bei. 

Wir sind über den Gegenwind erstaunt, schreiben weiter Mails, feilschen um Termine und treffen die Mobilizer-Teams, um organisierte Nachbarschaftshilfe während den Vorstellungen zu bekommen. Im Ashti-Camp werden wir schließlich doch draußen im Schulhof spielen, nur diesmal nachmittags, damit die Sonne uns und die Zuschauer wärmt bevor es auch hier abends saukalt wird. Und in Barika unterstützt uns wieder Un Ponte Per, eine italienische NGO, die uns, geleitet von der ganz und gar wunderbaren Suheila, unterstützt wo sie nur kann: Halle, Radiostation, Schulen, alle werden aktiviert und wundern sich über die »Gruppe, die immer wieder kommt«, wie es der Radiosprecher des Camps beim Interview formuliert.

Trotzdem wir in großer Eile Plakate gedruckt und Facebook-Seiten mit Fotos bestückt haben, trotzdem uns die Kinder dort die Flugblätter für die Aufführung aus den Händen gerissen haben, fragen wir uns, als die Stühle für die Zuschauer angeliefert werden, ob diesmal überhaupt jemand kommt oder wir in der untergehenden Sonne von Arbat allein vorm Direktor der Schule spielen werden. Als um halb vier dann die Schultore geöffnet werden, überrennen uns Hunderte von Kindern und die Plätze sind um viertel vor vier schon so dicht besetzt, dass wir sogar früher anfangen könnten – oder müssten, wenn wir nicht die Ungeduld unserer jungen Zuschauer riskieren wollen.

© Jens Petzold

Ohne dass es irgendwer beschlossen hat, schnappt sich Fatima, eine der Schauspielerinnen, ein Mikro und geht in den Clinch mit den Kindern: »Mögt ihr uns? Wenn ihr uns mögt, dann bewerft uns gefälligst nicht mit Steinen oder rennt auf die Bühne.«Der ruppige Ton von Fatima erweist sich als der genau richtige – und so ist das Publikum schon aufgeputscht als die Musiker die Anfangsmusik von »Die Geschichte von Mohamad Glasherz«, wie wir unser Stück hier getauft haben, anstimmen. Das Stück hat im Gegensatz zur Aufführung in Sulaymaniyah viele Lieder und Tänze, was uns bei den tobenden Kindern immer wieder Momente von Euphorie einbringt. Die erzählenden Texte finden die meisten dagegen nicht so spannend, da werden in den hinteren Reihen auch schon mal Türme aus Stühlen gebaut – bis Mohammad Glasherz, die Hauptfigur, stirbt: Plötzlich wird die Menge überraschend still.

© Jens Petzold

Vielleicht ist der Tod zu oft schon Teil ihres Lebens gewesen. Zeit zum Trauern bleibt keine – die Vorstellung bleibt zwischen vierhundert aufgeregten Kindern ein Ritt für die Schauspieler: Beim Schlusstanz ist bei ihnen die Erleichterung deutlich zu spüren.

© Jens Petzold

Unter wuselnden Kindern wird der rote Vorhang wieder abgebaut, Fragen beantwortet und Selfies mit den Schauspielern gemacht. Es bleibt ein punktuelles Erlebnis im langweiligen, schweren Lageralltag, wie die Sonne auch, verschwindet die Sabunkaran Theatre Group nach ein paar Stunden wieder und es kommt die Nacht. Bei uns dagegen: Ausgelassenes Singen der ganzen Gruppe bei der Rückfahrt im Bus. Jeder muss reihum ein Lied anstimmen. Woher diese Ausgelassenheit? Vielleicht sind alle froh, dass sie zu ihren eigenen festen Unterkünften in der Stadt zurückkehren können.

Stefan Otteni

Die Premiere

Die Premiere lief gut: In der ausverkauften Halle sammeln sich Familie, Freunde, Literaturliebhaber und andere Neugierige der Stadt, die wissen wollen, was denn das wird, wenn ein Deutscher den kurdischen Schlüsselroman der letzten 20 Jahre inszeniert.

© Jens Petzold

Schon bei meiner Ansprache – die selbstverständlich auf kurdisch und arabisch übersetzt wird – und später dann in den Kommentaren der Zuschauer stellt sich heraus, dass die kulturelle Trennlinie gar nicht zwischen Kurden und Europa wahrgenommen wird, sondern viel schärfer zwischen Kurden und Arabern: Unsere zwei- bis dreisprachige Aufführung ist nicht nur ästhetisch ein Wagnis: Abouna Jaques, der syrische christliche Pater, lobt uns für unseren unbedingten Willen, diese beiden Sprachen und Welten dem Publikum in Vereinigung praktisch vorzuführen: War doch arabisch für die Kurden hier immer die verhasste Sprache des Unterdrückers und Kurdenhassers Saddam Hussein. Und ein Roman, der auf Al-Anfal, die Chemieangriffe des Diktators auf die Kurden, zuläuft – darf der in der Sprache des großen Widersachers gespielt werden? 

Meine Ängste lösen sich in Luft auf: Bis auf einige gelangweilte Verwandte (und ein paar völlig überforderte kleine Kinder) ist das Publikum hochkonzentriert. Ich selbst bin viel zu beschäftigt mit dem Fahren der Lichtstimmungen (aus der Traum, sich als Regisseur während der Premiere schön sentimental zu betrinken), und gerade Zmnako, der die Hauptlast des Schmerzenmannes Muzafar Subhdam spielt, blüht im Laufe des Abends im Spiel immer mehr auf. Er lässt alle Textschwierigkeiten in einem souveränen Gefühlsstrudel verschwinden, der die Zuschauer in seinen Sog mitnimmt. Und das Schönste: Die erzählende Gruppe merkt, dass sie in ihrer chorhaften Präsenz wirklich die Hauptfigur verkörpert. 

Der Applaus ist dann doch sagenhaft kurz – aber die kurdische Anerkennung wird mit ganz anderem Maß gemessen, wie ich nach der Vorstellung merke. Bei der Premierenfeier (mit Fanta und Keksen) werden mir immer mehr Zuschauer vorgestellt mit den Worten: »Dieser Mann möchte sich bedanken, dass Du die Tragödie von Rojava mitinszeniert hast.«–»Diese Frau möchte Dich sprechen, sie hat die ganze Vorstellung durchgeweint.«Tränen statt Applaus, was könnte ich mir mehr wünschen von diesem gebeutelten Volk, das die zu Literatur geronnenen Berichte seines Leidens immer wieder von Neuem erleben muss.

Zuhause im Kloster (ich sage  Zuhause, so lange bin ich schon hier), beobachte ich Abouna Jacques, der sechs Monate vom IS in Palmyra in Geiselhaft gefangen gehalten wurde, und der in seinem Buch fast wortgleich zu unserer Hauptfigur darüber berichtet, wie er die Wüste von seinem Gegner zum Tor seiner inneren Freiheit gemacht hat. Ich frage mich, was er wohl gedacht hat, als er das heute Nacht theatralisch gespiegelt gesehen hat. Er wird es mir nicht sagen. Er wird mich lange ansehen, dann wird er sagen: »Tu sais, c´étais très fort.«Dann wird er lächeln.

Stefan Otteni

Eine Waffe im Kloster

Zurück zum 4. November

Man muss nochmal zurückgehen und das genau beschreiben: Friederike, eine christliche pazifistische Nonne erklärt sich nicht nur bereit, in Combat-Uniform eine Peshmerga-Kämpferin zu spielen, sie hat auch zusammen mit dem Klosterleiter, Abouna Jens, erreicht, dass uns die Peshmerga-Kämpfer, die uns vor unserem Kloster 24 Stunden am Tag bewachen, eine voll funktionsfähige Kalaschnikow AK 47 leihen. Dann kommt der Tag, das schwere Gerät wird in einer Sporttasche übergeben. Abt Jens musste die Wache überreden, dass sie überhaupt den entscheidenden Stift rausnehmen, um die Waffe garantiert schießunfähig zu machen. Auch den Brief, den sie uns schreiben, damit wir eine Berechtigung haben, diese Waffe durch die Stadt zu bugsieren, kommt erst auf unseren Wunsch zustande.

Dann ziehen sich die Nonne und der Abt zum »Waffenappell«, wie es der Deutschschweizer Jens nennt, zurück und üben. Auf einer Kinderbettdecke wird das Gerät postiert, begutachtet, erprobt und gelobt. Nur kurz darf ich zum Fotografieren dabei sein, denn alle sind sich des absurden Vorgangs bewusst. »Wir müssen uns fürs Theater auch moralisch verkleiden«zitiere ich immer wieder meinen alten Schauspiellehrer, aber in der Praxis ist das dann doch unüblich, absurd und großartig, dass man in einem christlichen Orden den Krieg übt. Das Theater kommt hier an ganz andere Grenzen als sonst in Europa.  Zwei Wochen später wird Friederike diese Waffe professionell durchladen, unseren Hauptdarsteller mit dem Tod bedrohen – und die Stirn in Falten legen, wenn ich ihr nach der Probe sage, dass sie immer noch zu weich ist. 

Unterdessen werden in Rojava, dem kurdischen Gebiet, dass sich Erdogan unter die Nägel reißt (dank eines sagenhaften Machtvakuums, kreiert durch einen dummen Trump und einen schlauen Putin), täglich kurdische Muslime und christliche Priester abgeschlachtet, ohne dass es die SPD bei ihrer Urwahl oder die CDU bei ihrem Parteitag stört. Siraj, einer unserer Schauspieler, der in Qamishli Familie hat, stürmt während der Proben immer wieder von der Bühne, weil er von seinen Verwandten unerwartete Anrufe bekommt. Währenddessen sagt Friederike auf arabisch in ihrer Rolle immer wieder mit der Kalaschnikow im Anschlag: 

»Was ist los mit dieser Nation? In diesem Krieg stehen sich nicht zwei unterschiedliche Religionen und nicht zwei unterschiedliche politische Strömungen gegenüber. Nein, nichts als zwei Menschen, die einander wie zwei Raubtiere grundlos zerfleischen. Ich sage dir, die Menschlichkeit ist wie ein Licht, das ständig an- und ausgeht. Dass es stetig brennt und uns leuchtet, das habe ich noch nicht erlebt.«

Stefan Otteni

© Jens Petzold

Premierentagebuch

© THE SABUNKARAN THEATRE GROUP
Trailer »Der letzte Granatapfel«

Heute ist Premiere, und wenn sich der Regisseur sonst an diesem Tag zurücklehnen kann, sein Premierenhemd bügelt und nach der Generalprobe so dumme Sätze sagen kann wie: »Es ist alles da, ihr müsst es nur noch spielen« – ist hier in Sulaymaniyah, in der alten Tabakfabrik erstmal nichts da: Die letzte Zuschauertribüne fehlt noch, am besten hilft man selber mit, denn Shahin, der Techniker ist auch derselbe, der mit mir heute Nacht bis um vier Uhr morgens die Beleuchtungsstimmungen gemacht hat. Er ist neben Technischem Leiter, und Bühnenarbeiter auch noch Chefbeleuchter (weil der einzige), Disponent, Cateringchef und Hausmeisterberuhiger (ja, auch das gibt es in Kurdistan: besorgte Hausmeister, die alles verbieten, was nicht mit fünf Stempeln erlaubt ist).

Dann muss noch das Gemüse gekauft werden, als Requisit für den Marktverkäufer, der so elendiglich stirbt, dann die Schuhe des zweiten Sohnes nicht, das Bett des bösen Generals Snauber ist gestern kaputtgegangen und überhaupt brauchen wir noch Wasser, Blumen, Kekse – und die Tränen einer der Spielerinnen müssen getrocknet werden: gestern haben wir noch Text von ihr gestrichen und jetzt ist sie verzweifelt. Die Liste ist lang und die Nerven liegen blank. 

Gestern in der Generalprobe (unser zweiter Durchlauf überhaupt) waren wir zum ersten mal so kompakt, dass man das Stück zeigen kann, wenn Zmnako, unser begnadeter Hauptdarsteller bei den großen Textmassen die Nerven nicht verliert. Kurz: die letzten Tage waren Gewusel, 24 Stunden durcharbeiten, Tränen, Fehler, Mängel und Stromausfall an den wichtigsten Stellen des Stücks. Und dann aber plötzlich wieder das: Gashtyar, unser freundlicher Sitar-Spieler mit der zarten Stimme hat ein Gedicht geschrieben auf unser Stück. Die Musiker sind begeistert, erfinden dazu eine Musik und fragen, an welcher Stelle des Abends man das singen könnte. Wir entscheiden uns, es kurz vor der Pause zu legen, wenn der Vater erfährt, dass er seinen Sohn in der Einzelzelle nicht besuchen kann und nur mit selbst besprochenen Kassetten, die er ihm schickt, in Kontakt kommt. 

Wir legen es ohne zu proben an diese Stelle, die Schauspieler sind überrascht, das Licht fällt – ungelogen – gerade kurz davor wieder aus, der Spieler des Vaters spricht ohne Licht weiter – und dann steigt durch den dunklen weiten Raum der Fabrik Gashtyars zarte Stimme auf und schwebt zwischen die ganzen erschöpften Körper. Als das Licht wieder angeht, sehe ich in den Gesichtern des Ensembles, dass jetzt wieder alle wissen, warum wir diese Geschichte erzählen. 

Nach dem Durchlauf wird derselbe Gashtyar bescheiden fragen, ob er vor der Kritik gehen darf: Seine Mutter ist im Krankenhaus und wurde in der Nacht operiert. Er möchte bei ihr sein, wenn sie aufwacht. Ich weiss nicht was ich sagen soll.

Stefan Otteni

Aus Deutschland ein herzliches TOI TOI TOI an die Sabunkaran Theatre Group zur heutigen Premiere von »Der letzte Granatapfel«!

Maren zimmermann und alle Spender:innen

Probentagebuch Nr. 10

Man würde hier gerne über künstlerische Probleme schreiben – darüber wie man als Deutscher ein Land auf der Bühne schildert, das seine Kriegsvergangenheit nicht aufgearbeitet hat – aber die praktischen Probleme nehmen überhand: Wird der Geheimdienst unsere Aufführung genehmigen? (Mehrere Briefe und Besuche sind notwendig). Kann das Gelände der Tabakfabrik zurzeit überhaupt für Kunst benutzt werden? (Im Moment ist es komplett belagert von Spendenaktionen für die von Erdogan bombardierten Kurdengebiete in Rojava) Soldaten patrouillieren, Demonstrationen blockieren die Hauptstraße. Für unsere Theaterwelt nicht weniger wichtig: Lana, unsere Grafik- Designerin, die in den letzten Jahren unseren optischen Auftritt so maßgeblich geprägt hat, sitzt dieses Jahr in Bagdad – und dort haben sie, genau, als sie uns ihre finalen Entwürfe für das Plakat mailen will –  wegen den immer schärfer werdenden Protesten das Internet abgestellt. „Sie“, das ist die irakische Regierung. Also gibt es dieses Jahr kein Plakat? Und ist das überhaupt wichtig angesichts der Dutzenden Toten, die die jugendlichen Freiheitskämpfer jeden Tag als Blutzoll in Bagdad zahlen? Ist es das, was Muzafar, unsere Hauptfigur meint, wenn sie im Stück den jungen Mohamad Glasherz beschreibt: „Mir scheint, dass er als Einziger die Dinge auf den Grund verstehen wollte. (Sieht ihn tanzen)  Wie schnell und selbstverständlich diese zerbrechlichen jungen Männer gestorben sind! … Die zarten Jugendlichen sind im Innersten bereit für den Tod. Gehört die Bereitschaft zum Sterben zur neuen Epoche?“ 

Das Aufführungsplakat

 Wir hoffen jedenfalls, dass Lana heil bleibt, denn sie versorgt die Protestierenden jeden Tag mit Mundschutz und Gasmasken, was ihr Vater nicht wissen darf, aber er wird es nie erfahren, denn dieser Blog wird nie auf arabisch übersetzt. Und dann bietet sich Mahmood an, einer der Übersetzer, der „nebenbei auch noch Grafikdesigner ist“, ob er nicht das Plakat machen soll. Ja, soll er. 

Während wir endlich den Verkaufskarren kaufen müssen, den die Figur des Saryas als einzigen Gegenstand besitzt. Wir wollen einen ganz alten und haben den Plan, dass wir einem Verkäufer auf dem Markt von Sabunkaran anbieten, ihm dafür einen neuen zu kaufen. Es ist nicht so einfach: Ich als Europäer muss mich eh raushalten, sonst wird der Karren so viel kosten wie ein Gebrauchtwagen, also kann ich nur spielen „ich bin ein bummelnder Tourist“, dabei konspirative Fotos aus der Ferne machen während sich ein Schauspieler, ein Techniker und Harem, der Übersetzer und Alleskönner versuchen, volksnah zu geben und einem der Karrenverkäufer seinen Wagen abzuschwatzen. Die Karrenverkäufer wollen alle nicht verkaufen, bis einer kommt, der misstrauischer ist als alle andern („Sind sie von der Polizei?“) und dann aber sein Glück nicht fassen kann und für die Möglichkeit, einen neuen Karren zu kaufen, uns den alten doch verkauft. Alte Dinge, der Fetisch Europas, zählen hier nichts. 

© Stefan Otteni

 Währenddessen sind die Gleichzeitigkeiten wie immer enorm, währenddessen entwickelt Hast, unser Mohamad mit dem gläsernen Herz, der immer noch mit der Gruppe fremdelt, einen Solotanz , der alle berührt, währenddessen schläft sein Kollege, Sarwar, der Erste Saryas, auf der Probe vor Erschöpfung ungeniert zwei ganze Szenen durch, währenddessen bläst Fatima ihren Verwandtenbesuch in Afrin wegen Bombardierung ab, währenddessen trifft sich im Kloster eine kleine Gruppe Christen zum Seminar „Verliebt in den Islam, im Glauben an Jesus“ währenddessen gibt es draußen vor der Fabrik ein Geräusch, dass wir in Deutschland als Feuerwerk titulieren würden, aber alle andern hier als Gewehrsalven.  Sind wir naiv? Sind wir in Gefahr? Die Nähe zur Gewalt ist fast ein Kennzeichen dieses Landes. Und ich erinnere mich an unsere Aufführung vor zwei Jahren, in der eine Spielerin fast beiläufig erzählt hat, wie sie auf dem Weg zur Schule einen Mord sieht und danach in die Schule geht und einen Mathetest schreibt, weil alles normal weitergeht. 

Müssen wir hier härter werden? Oder ganz im Gegenteil die Zartheit verteidigen? Das letzte Buch des hiesigen Klostergründers bevor er vom IS entführt wurde heißt: „Die Wut und das Licht.“ 

Stefan Otteni

Probentagebuch Nr.9

Endlich ist es soweit. Unsere erste Probe in der Fabrik: Der Ort, in dem wir spielen werden. Zuerst muss er einen ganzen Tag lang geputzt werden. Selbst die Übersetzer kommen freiwillig einige Stunden früher und helfen uns. Dann ist das Stockwerk dreimal geschrubbt und das beste was man sich wünschen kann: Im dritten Stock, zwischen Galerie, Jugendzentrum und Künstlerateliers haben wir jetzt für die nächsten drei Wochen diesen wunderbaren Raum, der genügend Härte hat, um diese traurige, aussichtslose Vater-Sohn-Geschichte zu erzählen – und genug Industrieromantik um Bachtyar Alis Poesie aufleben zu lassen. Allerdings nur in den Worten, nie in der Ausstattung des Abends, denn wir haben uns eine karge Ästhetik verordnet, die dem improvisierten Erzählstil des Romans entgegenkommt  – und uns nebenbei alles Geld das wir in Deutschland gesammelt haben nicht in teure Theaterbilder stecken lässt, sondern in die Entlohnung der Spieler, Übersetzer, Techniker. Alles andere wäre obszön hier, wo jeder drei Berufe hat um über die Runden zu kommen. Diese Entscheidung zieht einen seltsamen Konflikt nach sich: Der Regisseur, der aus dem reichen deutschen Theatersystem kommt, schwelgt in Einfachheit, die jungen irakischen Schauspieler, das äußern sie ganz leise, hätten gerne mehr Effekte „wie in Hollywood, oder wenigsten wie in Bollywood“. Das sieht man an der einzigen Actionszene des Stückes, die alle scheinbar am liebsten proben: Der Sohn der Hauptfigur, ein Karrenverkäufer im Markt von Slemani, wie hier die Kurden ihre Stadt nennen, der die Kinder des Marktes erfolgreich gegen die willkürliche Polizistengewalt verteidigt, ist kurz davor, einen der ungerechtesten Schläger zu töten, legt das Messer gerade noch nieder – und wird dann doch erschossen. 

  „Niemand, kein Licht, keine Erleuchtung, keine göttliche Inspiration kam uns zu Hilfe. Ein Grab, das ihm nicht angemessen war. Ohne Grabstein, ohne Würde, ohne Vater, ohne nichts.“ 

So heißt es im Text. Die Szene ist an Trauer und Sinnlosigkeit nicht zu überbieten. Die Spieler müssen, während sie den Tod des Kollegen spielen, selbst oft weinen, völlig unprofessionell, für mich ein Geschenk, – deshalb probe ich so gerne mit sogenannten Laien. Natürlich wären wir nicht in Kurdistan, wenn nicht mitten in der stillsten Todestrauer im Stock über uns ein Höllenlärm losbricht –  das Jugendzentrum dort hat einen Boxring, direkt über unserem Aufführungsraum. Das ist schön für die Jugend Kurdistans – und eine „Herausforderung“ für uns. Bei den beiden Katzen, die es irgendwie in den dritten Stock geschafft haben, ständig durchs Bild laufen und sich medienwirksam an den Hauptdarsteller schmiegen, wenn er stirbt, weiß man noch nicht, ob sie Fluch oder Segen für unsere Aufführung sind. Wenn ich sie wegjage, mache ich mich bei der gesamten weiblichen Hälfte des Ensembles unbeliebt. Sie werden wahrscheinlich bei der Premiere in zwei Wochen die Hauptrolle spielen. 

Stefan Otteni

Unsere Unterstützer*innen 2019

Unser herzlicher Dank geht an die zahlreichen Spender*innen, die über die Plattform »kickstarter« unsere Arbeit für 2019 finanziell unterstützt haben:

Remsi Al Khalisi + Verena Maria Bauer + Barbara Barth + Fernao Beenkens + Markus Bhonsle + Kathrein Bloess + Petra Blumenroth + Monika Brandl + Michel Brandt + Klaus Braun + Bremer Shakespeare Company + Klaus Cofalka-Adami + Babsi Daum + Nico Degenkolb + Yorck Dippe + Ute Eisinger + Peter Geibel + Birgitt Glöckl + Katharina Gloser + Stephanie Gräve + Carsten Herzberg + Armin Hintze + Marion Hirte + Rita Kämmerer + Ulrich Khuon + Udo Kusch + Bettina Lamprecht + Christoph Lembach + Kathrin Mädler + Rainer Mennicken + Dorle Messerer-Schmidt + Hans Meyer + Hartmut Neuber + Gero Nievelstein + Bettina Ostermeier + Peter Otteni + Wolfgang Peßler + Ewa Rataj + Frieder Reininghaus + Ariane Rindle + Judith Rosmair + Ruedi B. Roth + Christian Salle + Christiane Schleidt + Hinrich Schmidt-Henkel + Franz Bernhard Schrewe + Monika Schuh + Carola von Seckendorff + Monika Sprüth + Margaret Wallace + Dominik Wessely + Brigitte Widmer + Elke Wollmann + Anja Zimmermann + Dieter Zimmermann + Wilfried Zimmermann + Saskia Zinsser-Krys + und viele weitere anonyme Spender*innen.

Außerdem danken wir Shahab Kermani, der uns das Video für den Aufruf zur Verfügung gestellt hat, Martin Fürbringer für technische Hilfestellungen beim Spendenaufruf und Ayumi Ishihara, ohne deren Unterstützung beim Aufsetzen es diesen Blog nicht geben würde.

Probentagebuch Nr. 8

Ein Problem scheint gelöst, wie durch Wunderhand werden wir an den Starkstrom angeschlossen: Einer unser Hauptdarsteller, Zmnako, der als Becketts Estragon letztes Jahr mit seinen Schuh-Nummern die Kinder in den Camps zu Begeisterungsstürmen hingerissen hat, war schon einmal Ansager in genau dem Fernsehsender, der neben unserem Spielort liegt.

Licht in den Tiefen der Tabakfabrik
© Paolo Accardo

Ruckzuck ist ein Termin organisiert mit einem Herrn im Anzug (Der Chef des Senders? Ein Abteilungsleiter? Der Assistent? Wir wissen es nicht), der uns Tee servieren lässt und durch den Übersetzer mitteilt, dass er für die Kunst schon mal ein paar Hundert Ampère springen lässt. Schnell dämmert uns, dass es definitiv NICHT der Assistent sein kann, denn im Minutentakt werden der Chefelektriker, der technische Leiter des Senders und der Chef der Abteilung Kultur zur Besprechung dazu gerufen um konkret zu klären, wie der Starkstrom zu unserer Bühne fließt. Am Schluss heißt der Deal: Wenn wir 400 Meter Kabel besorgen, wird der Sender jeden Abend zur Vorstellung Starkstrom durch diese Kabel schicken.

Zmnako spielt
Muzafar Subhdam
© Paolo Accardo

Wenn es nicht so ein dummes Wortspiel wäre, würde ich sagen: Wir verlassen den Sender elektrisiert, jedenfalls sind wir in Hochstimmung. EINE Frage von ungefähr 128 ist geklärt, Zmnako ist stolz, wir sind dankbar. Ab jetzt wird mir dieser charismatische Schauspieler immer im Spaß drohen: Wenn du heute Abend die Probe wieder überziehst, ziehe ich dir 5 Ampère ab.

Stefan Otteni