Endlich ist es soweit. Unsere erste Probe in der Fabrik: Der Ort, in dem wir spielen werden. Zuerst muss er einen ganzen Tag lang geputzt werden. Selbst die Übersetzer kommen freiwillig einige Stunden früher und helfen uns. Dann ist das Stockwerk dreimal geschrubbt und das beste was man sich wünschen kann: Im dritten Stock, zwischen Galerie, Jugendzentrum und Künstlerateliers haben wir jetzt für die nächsten drei Wochen diesen wunderbaren Raum, der genügend Härte hat, um diese traurige, aussichtslose Vater-Sohn-Geschichte zu erzählen – und genug Industrieromantik um Bachtyar Alis Poesie aufleben zu lassen. Allerdings nur in den Worten, nie in der Ausstattung des Abends, denn wir haben uns eine karge Ästhetik verordnet, die dem improvisierten Erzählstil des Romans entgegenkommt  – und uns nebenbei alles Geld das wir in Deutschland gesammelt haben nicht in teure Theaterbilder stecken lässt, sondern in die Entlohnung der Spieler, Übersetzer, Techniker. Alles andere wäre obszön hier, wo jeder drei Berufe hat um über die Runden zu kommen. Diese Entscheidung zieht einen seltsamen Konflikt nach sich: Der Regisseur, der aus dem reichen deutschen Theatersystem kommt, schwelgt in Einfachheit, die jungen irakischen Schauspieler, das äußern sie ganz leise, hätten gerne mehr Effekte „wie in Hollywood, oder wenigsten wie in Bollywood“. Das sieht man an der einzigen Actionszene des Stückes, die alle scheinbar am liebsten proben: Der Sohn der Hauptfigur, ein Karrenverkäufer im Markt von Slemani, wie hier die Kurden ihre Stadt nennen, der die Kinder des Marktes erfolgreich gegen die willkürliche Polizistengewalt verteidigt, ist kurz davor, einen der ungerechtesten Schläger zu töten, legt das Messer gerade noch nieder – und wird dann doch erschossen. 

  „Niemand, kein Licht, keine Erleuchtung, keine göttliche Inspiration kam uns zu Hilfe. Ein Grab, das ihm nicht angemessen war. Ohne Grabstein, ohne Würde, ohne Vater, ohne nichts.“ 

So heißt es im Text. Die Szene ist an Trauer und Sinnlosigkeit nicht zu überbieten. Die Spieler müssen, während sie den Tod des Kollegen spielen, selbst oft weinen, völlig unprofessionell, für mich ein Geschenk, – deshalb probe ich so gerne mit sogenannten Laien. Natürlich wären wir nicht in Kurdistan, wenn nicht mitten in der stillsten Todestrauer im Stock über uns ein Höllenlärm losbricht –  das Jugendzentrum dort hat einen Boxring, direkt über unserem Aufführungsraum. Das ist schön für die Jugend Kurdistans – und eine „Herausforderung“ für uns. Bei den beiden Katzen, die es irgendwie in den dritten Stock geschafft haben, ständig durchs Bild laufen und sich medienwirksam an den Hauptdarsteller schmiegen, wenn er stirbt, weiß man noch nicht, ob sie Fluch oder Segen für unsere Aufführung sind. Wenn ich sie wegjage, mache ich mich bei der gesamten weiblichen Hälfte des Ensembles unbeliebt. Sie werden wahrscheinlich bei der Premiere in zwei Wochen die Hauptrolle spielen. 

Stefan Otteni