Wer gedacht hat, nach der Premiere in der Alten Tabakfabrik ist endlich die größte Arbeit vorbei, der wird nach den Anrufen in den Lagern, in denen wir dieses Jahr wieder spielen wollen, eines Besseren belehrt. Wir hatten gehofft, nach den letzten Jahren hätte sich alles eingespielt und man müsse dort nur die alten Kontakte wiederbeleben, um die Tour zu organisieren. Das Gegenteil ist der Fall, die Flüchtlingslager haben natürlich nicht gerade auf unsere Theatergruppe gewartet: Im Barika Camp bei Sulaymaniyah wird der einzige Raum, der sich zum Spielen eignet, für uns erst ab 16 Uhr frei, im Ashti Camp in Arbat scheitern wir mit unserer Bitte, bei dem Wetter diesmal in einem überdachten Raum zu spielen (das einzige große Zelt wird für Nachschub gebraucht, der mit den neuen Rojava-Flüchtlingen dringend nötig ist), und in Qushtapa bei Erbil ist das anvisierte Theater zu klein und die staatlichen Genehmigungen für das Spielen im Camp kommen nicht bei.
Wir sind über den Gegenwind erstaunt, schreiben weiter Mails, feilschen um Termine und treffen die Mobilizer-Teams, um organisierte Nachbarschaftshilfe während den Vorstellungen zu bekommen. Im Ashti-Camp werden wir schließlich doch draußen im Schulhof spielen, nur diesmal nachmittags, damit die Sonne uns und die Zuschauer wärmt bevor es auch hier abends saukalt wird. Und in Barika unterstützt uns wieder Un Ponte Per, eine italienische NGO, die uns, geleitet von der ganz und gar wunderbaren Suheila, unterstützt wo sie nur kann: Halle, Radiostation, Schulen, alle werden aktiviert und wundern sich über die »Gruppe, die immer wieder kommt«, wie es der Radiosprecher des Camps beim Interview formuliert.
Trotzdem wir in großer Eile Plakate gedruckt und Facebook-Seiten mit Fotos bestückt haben, trotzdem uns die Kinder dort die Flugblätter für die Aufführung aus den Händen gerissen haben, fragen wir uns, als die Stühle für die Zuschauer angeliefert werden, ob diesmal überhaupt jemand kommt oder wir in der untergehenden Sonne von Arbat allein vorm Direktor der Schule spielen werden. Als um halb vier dann die Schultore geöffnet werden, überrennen uns Hunderte von Kindern und die Plätze sind um viertel vor vier schon so dicht besetzt, dass wir sogar früher anfangen könnten – oder müssten, wenn wir nicht die Ungeduld unserer jungen Zuschauer riskieren wollen.
Ohne dass es irgendwer beschlossen hat, schnappt sich Fatima, eine der Schauspielerinnen, ein Mikro und geht in den Clinch mit den Kindern: »Mögt ihr uns? Wenn ihr uns mögt, dann bewerft uns gefälligst nicht mit Steinen oder rennt auf die Bühne.«Der ruppige Ton von Fatima erweist sich als der genau richtige – und so ist das Publikum schon aufgeputscht als die Musiker die Anfangsmusik von »Die Geschichte von Mohamad Glasherz«, wie wir unser Stück hier getauft haben, anstimmen. Das Stück hat im Gegensatz zur Aufführung in Sulaymaniyah viele Lieder und Tänze, was uns bei den tobenden Kindern immer wieder Momente von Euphorie einbringt. Die erzählenden Texte finden die meisten dagegen nicht so spannend, da werden in den hinteren Reihen auch schon mal Türme aus Stühlen gebaut – bis Mohammad Glasherz, die Hauptfigur, stirbt: Plötzlich wird die Menge überraschend still.
Vielleicht ist der Tod zu oft schon Teil ihres Lebens gewesen. Zeit zum Trauern bleibt keine – die Vorstellung bleibt zwischen vierhundert aufgeregten Kindern ein Ritt für die Schauspieler: Beim Schlusstanz ist bei ihnen die Erleichterung deutlich zu spüren.
Unter wuselnden Kindern wird der rote Vorhang wieder abgebaut, Fragen beantwortet und Selfies mit den Schauspielern gemacht. Es bleibt ein punktuelles Erlebnis im langweiligen, schweren Lageralltag, wie die Sonne auch, verschwindet die Sabunkaran Theatre Group nach ein paar Stunden wieder und es kommt die Nacht. Bei uns dagegen: Ausgelassenes Singen der ganzen Gruppe bei der Rückfahrt im Bus. Jeder muss reihum ein Lied anstimmen. Woher diese Ausgelassenheit? Vielleicht sind alle froh, dass sie zu ihren eigenen festen Unterkünften in der Stadt zurückkehren können.
Stefan Otteni