Man würde hier gerne über künstlerische Probleme schreiben – darüber wie man als Deutscher ein Land auf der Bühne schildert, das seine Kriegsvergangenheit nicht aufgearbeitet hat – aber die praktischen Probleme nehmen überhand: Wird der Geheimdienst unsere Aufführung genehmigen? (Mehrere Briefe und Besuche sind notwendig). Kann das Gelände der Tabakfabrik zurzeit überhaupt für Kunst benutzt werden? (Im Moment ist es komplett belagert von Spendenaktionen für die von Erdogan bombardierten Kurdengebiete in Rojava) Soldaten patrouillieren, Demonstrationen blockieren die Hauptstraße. Für unsere Theaterwelt nicht weniger wichtig: Lana, unsere Grafik- Designerin, die in den letzten Jahren unseren optischen Auftritt so maßgeblich geprägt hat, sitzt dieses Jahr in Bagdad – und dort haben sie, genau, als sie uns ihre finalen Entwürfe für das Plakat mailen will –  wegen den immer schärfer werdenden Protesten das Internet abgestellt. „Sie“, das ist die irakische Regierung. Also gibt es dieses Jahr kein Plakat? Und ist das überhaupt wichtig angesichts der Dutzenden Toten, die die jugendlichen Freiheitskämpfer jeden Tag als Blutzoll in Bagdad zahlen? Ist es das, was Muzafar, unsere Hauptfigur meint, wenn sie im Stück den jungen Mohamad Glasherz beschreibt: „Mir scheint, dass er als Einziger die Dinge auf den Grund verstehen wollte. (Sieht ihn tanzen)  Wie schnell und selbstverständlich diese zerbrechlichen jungen Männer gestorben sind! … Die zarten Jugendlichen sind im Innersten bereit für den Tod. Gehört die Bereitschaft zum Sterben zur neuen Epoche?“ 

Das Aufführungsplakat

 Wir hoffen jedenfalls, dass Lana heil bleibt, denn sie versorgt die Protestierenden jeden Tag mit Mundschutz und Gasmasken, was ihr Vater nicht wissen darf, aber er wird es nie erfahren, denn dieser Blog wird nie auf arabisch übersetzt. Und dann bietet sich Mahmood an, einer der Übersetzer, der „nebenbei auch noch Grafikdesigner ist“, ob er nicht das Plakat machen soll. Ja, soll er. 

Während wir endlich den Verkaufskarren kaufen müssen, den die Figur des Saryas als einzigen Gegenstand besitzt. Wir wollen einen ganz alten und haben den Plan, dass wir einem Verkäufer auf dem Markt von Sabunkaran anbieten, ihm dafür einen neuen zu kaufen. Es ist nicht so einfach: Ich als Europäer muss mich eh raushalten, sonst wird der Karren so viel kosten wie ein Gebrauchtwagen, also kann ich nur spielen „ich bin ein bummelnder Tourist“, dabei konspirative Fotos aus der Ferne machen während sich ein Schauspieler, ein Techniker und Harem, der Übersetzer und Alleskönner versuchen, volksnah zu geben und einem der Karrenverkäufer seinen Wagen abzuschwatzen. Die Karrenverkäufer wollen alle nicht verkaufen, bis einer kommt, der misstrauischer ist als alle andern („Sind sie von der Polizei?“) und dann aber sein Glück nicht fassen kann und für die Möglichkeit, einen neuen Karren zu kaufen, uns den alten doch verkauft. Alte Dinge, der Fetisch Europas, zählen hier nichts. 

© Stefan Otteni

 Währenddessen sind die Gleichzeitigkeiten wie immer enorm, währenddessen entwickelt Hast, unser Mohamad mit dem gläsernen Herz, der immer noch mit der Gruppe fremdelt, einen Solotanz , der alle berührt, währenddessen schläft sein Kollege, Sarwar, der Erste Saryas, auf der Probe vor Erschöpfung ungeniert zwei ganze Szenen durch, währenddessen bläst Fatima ihren Verwandtenbesuch in Afrin wegen Bombardierung ab, währenddessen trifft sich im Kloster eine kleine Gruppe Christen zum Seminar „Verliebt in den Islam, im Glauben an Jesus“ währenddessen gibt es draußen vor der Fabrik ein Geräusch, dass wir in Deutschland als Feuerwerk titulieren würden, aber alle andern hier als Gewehrsalven.  Sind wir naiv? Sind wir in Gefahr? Die Nähe zur Gewalt ist fast ein Kennzeichen dieses Landes. Und ich erinnere mich an unsere Aufführung vor zwei Jahren, in der eine Spielerin fast beiläufig erzählt hat, wie sie auf dem Weg zur Schule einen Mord sieht und danach in die Schule geht und einen Mathetest schreibt, weil alles normal weitergeht. 

Müssen wir hier härter werden? Oder ganz im Gegenteil die Zartheit verteidigen? Das letzte Buch des hiesigen Klostergründers bevor er vom IS entführt wurde heißt: „Die Wut und das Licht.“ 

Stefan Otteni