in Sulaymaniyah, Irak

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KREIDE AUF HEISSEN STEINEN

Auch im Lager rückt der Tag näher, an dem wir uns von den Kindern verabschieden müssen. Vieles haben wir in den zwei Monaten unsrer Arbeit nicht geschafft: Ein eigenes Stück zu improvisieren, eine feste Theatergruppe zu etablieren, der Gruppe eine Kontinuität im Spiel zu geben: zu chaotisch und flüchtig sind die Lebensumstände der Kinder zwischen Lehrerstreik, Unsicherheit und Langeweile. Es braucht einen Ansatz wie der NGO STEP, deren Räume und Ressourcen wir freundlicherweise für unsre Workshops nutzen dürfen: das ganze Jahr verlässlich da zu sein, jahrelang – egal ob mit Kletterkursen oder Musiktherapie. Einen langen Atem haben. Einfach immer weitermachen.

 Was wir aber schaffen: Den Gruppen einen Erfolgsmoment zu geben. Bei der Performance der Sabunkaran Theatre Group im Camp wollen wir dem versammelten Publikum vor dem Hauptprogramm den Lieblingstanz der Kinder zeigen. Dazu müssen wir die verschiedenen Kleingruppen überreden, alle zusammen zu proben. Es klappt, die Kinder sind sehr aufgeregt: Zum ersten Mal werden sie unterstützt von einer Live-Band tanzen. Als wir mit den Kindern in die Halle gehen, setzen sie sich hibbelig in die erste Reihe, ertragen meine Ansprache ans Publikum und stürmen dann die Bühne. 

Die Handy-Kameras der gesammelten Verwandtschaft sind auf sie gerichtet. Immer ist es ein besonderer Moment, wenn man in die Geflüchtetencamps nicht Kultur „bringt“, sondern die Bewohner:innen selbst Kultur zeigen. Der Tanz gelingt, keiner stolpert, alle sind stolz. Weil wir kein gutes Zeichen zum Ende des Tanzes ausgemacht haben, spielt die Band endlos weiter, wird lauter und lauter, bis Dilan an der Klarinette schließlich doch ein Schlusstremolo erfindet und stoppt. Erschöpft und glücklich verbeugen sich die Kinder.

Und dann hatte ein Junge aus der Theatergruppe vor der Vorstellung noch einen großen Wunsch: Er möchte einmal mit der Profi-Band zusammen auf der Bühne Gitarre spielen. Ich traue mich kaum, das Dilan, unserem musikalischen Leiter vorzuschlagen, zumal das Wunschlied des kleinen Jungen auch noch  “Bella Ciao“ ist – aber Dilan moderiert die Einlage auf charmante Art an, spricht ins Mikro von einem „special guest“ und dann hört man dieses italienische Partisanenlied in einem irakischen Flüchtlingslager wie neu.

Foto: Stefan Otteni

Am nächsten Tag komme ich wirklich zum letzten Mal in die Theatergruppe der Kinder: Ich habe ihnen Kreide mitgebracht und von der Lagerleitung die Erlaubnis bekommen, die Straße vor dem Kindercontainer bemalen zu dürfen. Wir haben diese Aktion für unsere 20 Theaterkinder geplant: Es kommen dreimal so viele, alle begeistert, unterfordert, begierig sich auszudrücken, reißen sie mir die deutsche Straßenkreide aus den Händen. So gerne ich zwischen den Kindern die vielen Straßenbilder bewundere, die entstehen, so beklemmend wird mir in der immer weiter anwachsenden Kindergruppe klar, was das ist, was wir hier machen: Tropfen auf heißen Steinen.

Stefan Otteni

Foto: Paolo Accardo

DIE PREMIERE – WAS ZÄHLT IST AUF DEM PLATZ

Drei Tage vor unserer diesjährigen Premiere kommt endlich die erlösende Nachricht: Rawaa, die letzte Woche noch überraschend Corona hatte, geht es wieder gut. Sie testet negativ und hat keine Symptome mehr. Auch die anderen Kranken sind gesund, so dass wir jetzt endlich loslegen können. Ein Kunststück bleibt es trotzdem, wie wir in drei Tagen dieses komplizierte Stück aus Dutzenden von schnellen Auftritten und kleinsten verzahnten Szenen noch so zusammensetzen, dass außer Präzision auch noch die Spiellust bleibt. So macht sich der Regisseur nicht beliebt, wenn er der erschöpften Gruppe zwei Abläufe pro Tag verschreibt, um die Leichtigkeit der Auftritte zu erreichen, die diese Produktion braucht, um den Zuschauenden wirklich ins Geschehen hineinzuziehen.

Und wirklich funktioniert am Tag der Premiere noch nicht alles wie es soll. Trotz der genial improvisierten musikalischen Übergänge der Band hört man im Off manchen im Ensemble bei den vielen schnellen Umzügen fluchen. Das Publikum, das an drei Seiten um das Quadrat des idyllischen Klostergartens sitzt, ist zuerst verwirrt und dann hingerissen vom nicht endenden Wirbel der Figuren Handkes, die das Ensemble mit so viel Einsatz und Enthusiasmus zu seinen eigenen macht. Selbst wenn das Quadrat mal leer bleibt – und dem Regisseur das Herz stockt, ob jetzt alles zusammenbricht, weil einer der Spieler gerade seinen Auftritt verpasst – nimmt das Publikum es anscheinend als gewollten Kunstmoment an diesem heißen Herbstabend mit tief fliegenden Schwalben.

Und dann, am zweiten Abend das Wunder: Aus der noch stockenden, tastenden Abfolge des ersten Abends ist plötzlich ein elegantes, fast tänzerisches Ganzes geworden – und die Szene in der die Kirchenglocken läuten und alle Figuren sich wie zum ersten Mal begegnen, ist plötzlich der stille, intensive Höhepunkt der letzten anstrengenden sechs Wochen. Wenn dann, wie vom Autor gewünscht, auch das Publikum aufsteht und mit über den Platz geht, (bei uns natürlich gecastet und geprobt: Ali, ein junger Gast des Klosters, und Marcus, der charismatische Mediator und Anleiter von non-violent-communication-Seminaren springen auf und mischen sich unter die Schauspieler), verwirren sich Bühne und Alltag aufs Schönste.

Was nimmt das Publikum mit aus dieser gewöhnungsbedürftigen Komposition von stummen körperlichen Begegnungen? Man weiß es als Beteiligter nie genau, es kommen nach dem Applaus immer nur die zum Regisseur, denen es gefallen hat, die anderen schleichen sich wortlos nach Hause. Ein Zuschauer zumindest hat eine bemerkenswerte Interpretation. Er bedankt sich für, wie er sagt „das Portrait unserer irakischen Gesellschaft, die immer versucht, sich zu verbessern, und dabei immer scheitert.“ Wie jede Gruppe eigentlich, denke ich für mich.

Stefan Otteni

AH, MERKEL!

Um die Aufführungen zu planen, gehen wir in den Camps jedes Jahr zu den sogenannten „Sheiks“, den selbstgewählten Vertretern der Lagerbewohner*innen. Die Campleitung findet das unnütz, aber wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, um mit den Leuten vor Ort wirklich in Kontakt zu kommen: Wir erzählen Ihnen, was die diesjährige Aufführung bringen wird und bitten sie, gute Frauen und Männer für die neighbourhood security zu finden. Das sind Menschen aus den Camps, die bei den Aufführungen im Publikum sitzen und aufpassen, besonders wenn die aufgeregten Kinder schon mal die Bühne stürmen wollen.

Dieses Mal sind es besonders viele Scheiks, die uns, der Schwester aus dem Kloster, dem Theatermann aus Deutschland und der Übersetzerin aus einem der Camps gegenübersitzen. Männer, wie sie sich der kleine Stefan beim Lesen von „Tausend und eine Nacht“ damals vorgestellt hat: stattlich, in weißen Jalabiyas, weiße Tücher um den Kopf, ihre Gebetsketten flitzen durch die kräftigen Hände.

Diesmal müssen wir gar nicht so viel erklären: Einige kennen uns von den letzten Jahren und versprechen, dass sie auch diesmal ihre Frauen zu den Aufführungen gehen lassen. Trotzdem ist es immer eine Gratwanderung, sie zu unseren Abenden einzuladen, sind doch einige Bewohner kulturell meilenweit von einem europäischen Theaterverständnis entfernt.

Als ich meine Ansprache beendet und wir schon lange ihre Zeit beansprucht haben, frage ich, eher aus Höflichkeit, in die Runde, ob sie noch Fragen haben. Einer der Sheiks sagt Ja: Er möchte jetzt mal etwas sagen. Er habe festgestellt, dass Deutschland das einzige Land sei, das wirklich alle Menschen aufnehme, egal ob Muslime, Jesiden oder Christen. Und dort würden alle Neuankömmlinge gut und fair behandelt, das würden ihm Verwandte und Freunde immer wieder aus Deutschland berichten. Diese Frau Merkel würde die Geflüchteten als Menschen respektieren, dafür seien alle hier sehr dankbar, und ich solle ihr doch unbedingt ausrichten, das sei außergewöhnlich anständig von ihr.

Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll: da sitzt ein syrischer Sheik, optisch eigentlich das pure Schreckensgespenst jedes AfD-Wählers und äußert eine derart profunde Meinung über die deutsche Flüchtlingspolitik, dass man glaubt, er wird gerade falsch übersetzt. Ich sage dem Sheik, dann doch etwas: Dass ich Frau Merkel gar nicht persönlich kenne, aber versuchen werde, diesen Dank auszurichten. (Und beschließe sofort, ihr einen Brief zu schreiben, wenn ich wieder Zuhause bin.)

Alle drei gehen wir nachdenklich zum Pickup zurück. Nach einem langen Schweigen hinterm Steuer auf der Straße zwischen den verbrannten Hügeln Kurdistans sagt dann Friederike: „Also egal, wie man Merkel findet, eins hat sie geschafft: Wenn man früher sagte, dass man Deutscher ist, sagte jeder immer: „Ah, Hitler.“ Heute werden, beim Stichwort Deutschland die Gesichter heller und alle sagen: „Ah, Merkel.“

Stefan Otteni

HINKENDER HUND IM HINKENDEN STAAT

Sich auf Augenhöhe begegnen – im politischen Leben wird das auch Demokratie genannt – ist hier im Irak immer noch ein Wagnis. Während die Proben voranschreiten, bereitet sich der Irak auf nationale Parlamentswahlen vor. Egal wen man darauf anspricht, den preisgekrönten Dokumentarfilmer aus Suleymaniyah, der freundlicherweise wieder unser Stück im Film verewigt, oder den Fahrer, der uns zweimal die Woche mit den anderen NGO-Mitgliedern in die Camps fährt: kaum einer hat vor, zur Wahl zu gehen. (Am Wahltag wird dann mancher von ihnen angerufen und aufgefordert werden, wählen zu gehen, und zwar mit dem Kreuz an einer ganz bestimmten Stelle). Die Selbstgefälligkeit der Parteien, die Korruption der politischen Kaste ist hier unbeschreiblich dreist. Man möchte als überzeugter Demokrat verzweifeln, wie ein System in der irakischen Bevölkerung schon abgeschrieben wird, bevor es auch nur ansatzweise verwirklicht ist. Nur die Protestbewegung der Jugendlichen in Städten wie Bagdad und Basra durchbricht die Lethargie. Im kurdischen Teil Iraks scheint das System in einem Zwei-Parteien-Kampf wie eingefroren – kein Protest, nirgends. Der Schock von 2011, als die dortigen Proteste zerschlagen wurden, sitzt tief.

Bei uns im Ensemble bedeutet sich auf Augenhöhe zu begegnen, dass sich die Schauspieler dieses Mal selbst aussuchen, welche der 800 Figuren in Handkes stummen Stück ihrem Leben am meisten entsprechen: Die stolpernde Sekretärin, das schreiend sterbende Bündel oder der vom Tod verschonte Sohn Abrahams. Die Wahl geht langsam vor sich, vielleicht aus fehlender Übung, vielleicht auch weil die vorübergehenden Figuren so ungreifbar sind. Wahrscheinlich aber auch, weil sie nicht gewohnt sind, als Künstler so persönlich für ihre Sachen einzustehen.

Ich versuche ihnen zu erklären: Weil wir auf ein aufwendiges Kostümkonzept verzichten, werden die einzelnen Figuren vom Publikum wahrscheinlich eher als durchgehende Performer-Persönlichkeit wahrgenommen. Und so fangen die Spieler an, sich eine Schneise durch den Figuren-Wirbel des Handke-Platzes zu schlagen. Auch ungewöhnliche Wünsche werden angenommen: Ausgerechnet Friederike, die in der Gemeinschaft Mar Musa als Schwester lebt, möchte gerne den „hinkenden Hund eines hinkenden Mannes“ spielen. Wird sie.

Es ist so schön wie gespenstisch, wie sich das eigentlich unpolitische Stück Handkes in den Händen der Schauspieler zu einem selbst durchlittenen politischen Kommentar auf die Lage des Landes und der arabischen Gesellschaften entwickelt: Jetzt, da sie ihren falschen Respekt vor dem nobelpreisgekrönten europäischen Großdichter abgelegt haben, werden die Improvisationen fordernder und in den Proben, die jetzt immer öfter unter freiem Himmel stattfinden, stürmen Soldaten durch den abendlichen Klostergarten, werden Todesurteile verschoben, Ehen begraben und Parabeln von stillem Widerstand erzählt. 

Foto: Jens Petzold

Keiner kann sich bis jetzt vorstellen, wie das mal zusammengebaut werden soll (ehrlich gesagt auch der Regisseur nicht) und die Wochen gehen schneller vorbei als wir dachten. Was als eine Schule der Bewegung mit vielen fordernden Körper-Übungen von Choreograf Paolo begann, droht jetzt doch wieder zum Endproben-Stress zu werden, vor allem, wenn man die Probenzeit um die zum Teil fordernden Berufe der Schauspieler herum disponieren muss.

Dann erstmal das Ende: Ausgerechnet eine der engagiertesten Spielerin, Rawaa – die sich für die stolpernde Sekretärin regelmäßig in den Dreck schmeißt und sich sogar angeboten hat, die Opferziege für Abraham zu spielen – wird bei den regelmäßigen Coronatests, die wir als gute Arbeitgeber zweimal die Woche im Ensemble durchführen, auf einmal positiv getestet und muss in Selbstisolation. Ihre ganze Familie hat es erwischt. Wir versorgen sie mit einer Familienpackung Lidl-Schnelltests. Tieftraurig schickt Rawaa uns per WhatsApp die Fotos der täglichen Teststreifen. Der Regisseur tröstet die weinende Schauspielerin (und sich) am Telefon mit der Halblüge, dass Corona bei manchen nur eine Woche dauert. Der Komplettausfall und die Umbesetzung von Rawaa wäre für sie eine Tragödie: Sie wird im November in die USA emigrieren, das hier wäre für die theaterbegeisterte junge Studentin ihre letzte Arbeit mit uns. Das Ende der gesamten Produktion steht nun zur Diskussion, zumal uns auch andere Krankheitsfälle beuteln. Es hat dieses Jahr im Irak kaum geregnet und selbst das gefilterte Trinkwasser ist so schlecht, dass die Leute reihenweise mit Bakterieninfektionen zu Boden gehen.

Nachts schaue ich dann per Internet nach langer Zeit wieder mal „Tagesthemen“ und merke, dass selbst nach der Wahl in Deutschland kein Politiker über den Rest der Welt redet, nicht über den Irak, den Iran, nicht über Afghanistan – eigentlich über nicht viel anderes als Koalitions-Selfies und die 7-Tage-Inzidenz im Landkreis Schmalkalden-Meiningen. Ist dieses Germany First wirklich das System, das Länder wie der Irak noch lernen müssen?

Stefan Otteni

DOKTOR MAHMUT IM OP

Während wir Abends bei den Schauspielerproben mit Handke, Brecht und Corona ringen, geht tagsüber die Arbeit in den Geflüchtetencamps weiter: Mit den Kindern sind wir jetzt bei der Übung „Die Magischen Schuhe“ angelangt, eigentlich eine alte Peter-Brook-Szene die er auf afrikanischen Marktplätzen entwickelt hat: Du findest auf dem Platz ein paar Schuhe, du ziehst sie an, sie verwandeln dich – und wir fügen dazu: in das, was du schon immer sein möchtest.

Denn was sie schon immer sein möchten, ist das Letzte, was diese Geflüchtetenkinder in den Camps jemand fragt. Auf diese Art versuchen wir ihnen sinnlich zu vermitteln: Im Theater ist alles möglich, wenn du es dir vorstellst. Auf diese Art werden im kargen Container der NGO STEP in den nächsten Wochen viele neue Figuren geboren: Der junge Spiderman (er besiegt alle Feinde und steht danach in der Sonne), der Gott Krishna (er beruhigt die Tiere, die die anderen Kinder spielen müssen), mehrere Cinderellas (sie tanzen so schön, dass der Prinz sie aus ihrem Leben rausholt). Viele Vorbilder aus Holly- und Bollywood sind dabei, aber auch ganz Eigenes: Eines der kleinsten Mädchen möchte der Wind sein, und Nasreen, sonst die Lauteste der Gruppe, „die Musik“. Und sie wird mich ganz erstaunt anschauen, als ich sie frage, wie ich ihr dabei helfen kann – natürlich indem ich ganz wunderbare Musik in ihrer Szene laufen lasse. Die Kinder wollen gar nicht mehr aufhören mit den „magic shoes“, so notwendig scheint für ihr Leben eine Perspektive, die sie selbst gestalten.

Viele wollen aber auch Lehrer oder Arzt sein. So beschließen wir in der folgenden Woche eine realistische Theaterebene einzuführen, die „Krankenhaus für alle“ heißt: ich verbringe die Stunden damit: „Dr. Mahmut bitte in den OP“ zu rufen, und Dr. Nawroz zu beraten, wie sie den Jungen mit dem verletzten Kopf am besten röntgt. (Zu Beginn meines Aufenthaltes war ich gestürzt, und das Röntgenbild meines gebrochenen Zehs entpuppt sich als großer Hit.)

Foto: Paolo Accardo

Wenn die Fantasie stockt bitte ich sie, der Gruppe zu erzählen, wann sie das letzte Mal einen Arzt gebraucht haben – und die Krankengeschichten, die sich da in der Sprache der Kinder andeuten sind herzzerreißend: medizinisch unterversorgt, von einer Intensivmedizin der 1. Welt ausgeschlossen, spielen sie sich Visionen von Ärzten herbei, die irgendwo zwischen Krishna und Dr. House liegen: nicht eine heile, sondern eine heilende Welt, mitten im NGO-Container, in dem eine wummernde Klimaanlage völlig überfordert für ein wenig Kühlung sorgt.

Überraschend kommt die Übung plötzlich an einen kritischen Punkt: Ein Mädchen, das angetreten ist, sich in den „stärksten Menschen der Welt“ zu verwandeln, bitte ich, wie alle zuvor, die Kraft der Schuhe fühlen, bevor sie ihre Fantasie beginnt. „Ich spüre nichts. Ich spüre nichts“ ruft sie immer wieder und glaubt, es liege an ihr. Nichts hilft: keine Musik, keine gelenkte Fantasiereise mit geschlossenen Augen. Kann Theater doch nicht alles? Nach der Übung hat sie immer noch nichts gespürt: Ich versuche ihr das Prinzip zu erklären, dass man aktiv in die Fantasie hineingeht, dass sie einen nicht von außen überfällt. Sie nickt gelehrig und enttäuscht und möchte es in der Woche drauf nochmal probieren. Ich komme mir vor wie ein Wunderheiler, der die Kinder anlügt.

Stefan Otteni

MOMENTE VON FREIHEIT

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Die Arbeit der Gruppe ist dieses Jahr eine Besondere: Nach der anspruchsvollen und perfekt getimten Aufführung von „Brief an den General“ (Siehe den Beitrag „Lieber General“ weiter unten), ist der Anspruch groß und unser Material scheinbar bescheiden: Wir wollen nach den textlastigen Produktionen der letzten Jahre, dieses Mal weitgehend ohne Worte arbeiten. Handkes „Stunde da wir nichts voneinander wussten“, sein stummes Stück über den Platz, der von hunderten Figuren und Kurzdramen bevölkert wird, scheint dem Ensemble erstmal ein Rückschritt zu sein. Nur einige ziehen die Verbindung zu den politischen Umwälzungen, die gerade im Irak vor allem auf öffentlichen Plätzen stattfinden.

Die meisten der Schauspieler:innen aber tun sich schwer mit dem schieren Lesen dieses Stücks, das nur aus Regieanweisungen besteht. Erste Übungen zu Körperhaltungen und verschiedenen Arten zu gehen, scheinen ihnen interessant aber abstrakt. Erst als wir auf den hiesigen Marktplatz gehen und ich die Schauspieler dort bitte, die vielen hundert Menschen zu beobachten, ihre Körper, Kinder und Partner – erst da scheint das Stück wirklich konkret zu werden. Und „von hier“ wird es, als ich sie bitte, aufzuschreiben, was ihrer Meinung nach im deutschen Handke fehlt, wenn er sich auf einen italienischen Platz setzt. Was ist auf arabischen Plätzen anders? Der Mann, der mit seinem kleinen Sohn Dörrobst isst, die Verkäufer an den Karren mit ihren müden Körpern und wachen Augen, die Frauen, die ihre kleinen Kinder wie Taschen tragen – und vor allem die minderjährigen Tütenverkäufer, die uns zunehmend entgeistert umkreisen: Soeine große Gruppe, die solang auf dem Markt bleibt und nicht einePlastiktüte kauft. 

Auch wenn wir die Kinderarbeit in Kurdistan mit diesem Projekt nicht lindern können – das macht Siraj, einer unserer engagiertesten Spieler, der tagsüber als Sozialarbeiter im STEP Day Center den arbeitenden Kindern des Marktes einen safe space anbietet, an dem sie sich erholen und Kinder sein können – haben wir doch einiges begriffen: dass hinter jedem aufdringlichen Wasserverkäufer eine Geschichte steckt, die es wert ist, mit Peter Handke erzählt zu werden. Motivierter fängt das Ensemble jetzt an, zu entwickeln, was Brecht „soziale Genauigkeit“ nennt: Körperhaltungen werden auf ihre Realität untersucht und dann erst zugespitzt, die Übungen von Choreograf Paolo werden als Vorstufen für eine artifizielle, radikalere Körperlichkeit begriffen, die dieses Jahr entwickelt werden soll.

Foto: Paolo Accardo

Entwickelt werden soll aber auch der Zusammenhalt der Ensemblemitglieder, die völlig verschiedener Herkunft sind: Geflüchtetenbiografien aus Aleppo und Qamishli im kurdischen Teil Syriens treffen auf hier Ansässige wie Serwar, der gerade die Slemani Academy of Dramatic Arts beendet hat, Rikawt, der mit seinem Bruder einen Barbershop betreibt und Danyar, der seinen massigen Körper Abend für Abend rücksichtslos in die Proben wirft – und in den Pausen alle davon überzeugen will, dass „Metallica“ die beste Band ever ist. 

Wir werden beschenkt von der Großzügigkeit mit der die Spieler noch die kleinste Fingerübung Handkes zum Leben erwecken: Ishraq, die aus Palästina kommt und hier in Kurdistan schon seit Jahren auf ihr Visum wartet, überrascht uns immer wieder mit Improvisationen, die so mutig und persönlich sind, dass eine Unterscheidung zwischen „Profi“ und „Laie“ wieder mal unsinnig ist, und Theater zu seiner Quelle zurückkehrt: Man hat etwas zu sagen, man geht auf die Bühne und sagt es.

Foto: Paolo Accardo

Als sie jemanden spielen soll, der stirbt, kriecht sie auf dem Boden durch den dunklen Probenraum, schält sich am Ende des Zimmers aus der Decke, schnappt nach Luft und stirbt, schnell und undramatisch. Was hat sie da gespielt? Wir glauben kaum, was sie erzählt: Ihr palästinensischer Bruder ist in einem israelischen Gefängnis, auf Jahrzehnte verurteilt. Sechs Mitgefangene aus Ishraqs Heimatstadt haben vor einigen Wochen einen Tunnel gegraben und sind den Israelis entkommen. Vier wurden wieder gefasst. das hat sie versucht darzustellen: Ein Mensch, der im Moment in dem er die Freiheit erlebt, wieder aufgeben muss.

Stefan Otteni

MOMENTS OF FREEDOM

This year the group´s work is tricky: After the demanding, well paced performance of „Letter to the General” (see article “Dear General” below), the stakes are high and our material seems rather modest: After doing productions largely focused on literary texts in the past years, this time we´ll be working mostly without words. Handke’s HOUR WE KNEW NOTHING OF EACH OTHER, his silent piece about a square populated by hundreds of characters, seems to be a step backward for the ensemble. Only few of them draw the line to the political momentum with upheavals happening in public squares all around Arabian countries, especially in Iraq.

Most of the actors however have a hard time even reading this play, made of stage directions only. First exercises on different styles of walking them seem interesting to them but stay abstract. Only when we take them to the local market square and ask them to watch these hundreds of people, their bodies, children and partners – only then does the play really seem to get down to earth – and it gets “local“ when I ask them to note what´s missing when a German writer is sits down on an Italian square. How do Arab squares differ from this European role model? Is it the man who´s eating dried fruit with his little son? Is it the sellers pushing their carts with tired bodies and watchful eyes, the women who carry their little children like shopping bags – or is it the underage bag sellers, that are circling around us getting more desperate by the minute: Such a big group lingering on the square for such a long time – and not a single one of them is buying a plastic bag!

Foto: Paolo Accardo

Although with this project we won´t be able to stop child labor in Kurdistan – that´s something Siraj, one of our most committed players, tries to do: He´s a social worker in STEP´s day center that offers the market´s child laborers a safe space to relax and be children again – we learned a lot: every pushy water seller tells a story worth to be told by Peter Handke. When the actors come back, they are better motivated, and they starts developing what Brecht once called “social accuracy”: physical states are examined for their social reality and only then sharpened and exaggerated, the exercises by choreographer Paolo are understood as first steps towards a more radical physical approach that we achieve to develop this year.

Another one of our aims is to develop the team spirit of the ensemble, whose members are from highly diverse backgrounds: actors with biographies disrupted by war and displacement from Aleppo or Qamishli, the Kurdish part of Syria, meet Kurdish residents such as Serwar, who just finished Slemani Academy of Dramatic Arts, and Rikawt, who runs a successful barbershop with his brother, and Danyar, who keeps throwing his massive body ruthlessly into the rehearsals´ work every night – and who during the breaks tries to convince everyone that Metallica is the best band ever.

It is a gift for all of the team how the actors´ generosity gives life to even the slightest little scenes of Peter Handke: Ishraq from Palestine has spent years in Kurdistan waiting for her visa. She keeps surprising us with courageous and personal improvisations, proving again how silly any distinction between “professional” and “amateur” always is. It´s like as if theater is returning to its source: You have something to say, you enter the stage, you say it.When I ask her to play someone who is dying, she starts crawling on the floor, peels out of her blanket at the end of the room, gasps for air and dies, all this in a swift and undramatic way. What is it she showed us? We can hardly believe what she´s telling us: Her Palestinian brother is trapped in an Israeli prison, sentenced for decades. A few weeks ago, six fellow prisoners from Ishraq’s hometown dug a tunnel and escaped their Israeli enemies. Four of them were caught again. This is what she was  trying to perform: A person that finally finds freedom and has to give up in the very moment.

Stefan Otteni

TIERE, DIE SICH TREFFEN

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Wir sind wieder in Sulaymaniyah! Nach der Covid-Zwangspause im letzten Jahr können wir endlich wieder mit dem Ensemble der Sabunkaran Theatre Group arbeiten. Bevor ich aber über unsere ersten Proben mit der Gruppe erzähle, muss ich über unsere Theaterarbeit in den Geflüchtetenlagern berichten, die vor den Toren dieser nordirakischen Millionenstadt in der hier herrschenden Hitze und Trockenheit immer noch bestehen. Das Umsiedeln oder Heimkehren ist für die Bewohner entweder gar nicht möglich – in Syrien regiert der Diktator Assad mit neu erstarkter Härte – oder es wäre ein Desaster für die eigene Lage: selbst die vom IS befreiten Gebiete sind politisch instabil, inzwischen von anderen Menschen besiedelt oder schlicht und einfach wirtschaftlich ruiniert und ohne Infrastruktur wie Schulen oder Krankenhäuser zurückgelassen. 

Insofern ist es – neben der Tragödie, dass manche Familien schon bis zu sieben Jahre hier leben – ein Glück, dass die Kurdische Regionalregierung diese Lager immer noch betreibt. Deshalb haben wir beschlossen, sie dieses Jahr nicht nur für Gastspiele zu besuchen, sondern unsere Zeit vor Ort auch zu nutzen, um Theaterkurse für die vielen unterforderten, vernachlässigten Kinder dort zu geben. Nach vorsichtigem Vortasten, ob die Organisation STEP (die eine lange Expertise mit den Kindern der Stadt hat) uns unter ihre Fittiche nimmt – das tut sie gerne! – gibt es kurz vor dem Beginn der Kurse erstmal einen Rückschlag: Ein Corona-Ausbruch im Camp Barika macht den direkten physischen Kontakt, den Theater braucht, unmöglich. Die Flüchtlingslager werden wieder abgeriegelt, die NGOs halten mit Kindern und Eltern den Kontakt notdürftig über Smartphones aufrecht. 

Foto: Paolo Accardo

Dann in der ersten Woche unseres Aufenthalts die erlösende Nachricht: Weil ihr Deutschen geimpft seid, könnt ihr die Kurse mit kleinen Gruppen anfangen. Genauso lang dieser Text braucht um endlich über Theater reden zu können, genauso viel Mühe und Umwege hat es uns gekostet, die ersten Kinderschauspieler im improvisierten Probenraum zu treffen. Aber jetzt geht dank STEP alles sehr schnell: Die ersten Kurse werden angesetzt, von den vielen Interessierten werden drei Gruppen von je sechs, sieben Kindern zusammengestellt. Und schon vier Tage nach unserer Ankunft sitzen wir um 10 Uhr morgens einer Gruppe von aufgeregten syrischen Kindern gegenüber.

Foto: Paolo Accardo

Wir sind genauso aufgeregt, machen erstmal Kennenlernspiele mit dem Ball – und merken: schon den eigenen Namen laut in die Runde zu sagen ist für manche Kinder eine große Überwindung. Und für jemanden wie den kleinen Mohammed unerwartet ein Riesenspaß: immer wieder sagt er seinen Namen und lacht uns dabei aus vollem Herzen an. Vor jeder Art von Theaterausdruck werden wir also hier erstmal an dem arbeiten, was deutsche Pädagogen „Ich-Stärkung“ nennen. 

Schon das nächste Spiel – „zeigt uns wie sich euer Lieblingstier bewegt“ – führt uns praktisch vor, wie verschieden die Kinder entwickelt sind. Auch die, die nur scheu dabei sitzen und zu allem den Kopf schütteln, sind uns willkommen. Wir können nur ahnen (und erfahren es Stück für Stück in den nächsten Tagen), was die Mädchen und Jungen alles erlebt haben, bevor sie hierher kamen.

Uns wird klar: Die Welt dieser Kinder ist oft ärmer an Erfahrungen als bei europäischen Gleichaltrigen, weil – so banal es ist – viele schon die längste Zeit ihres kurzen Lebens in diesem Geflüchtetenlager leben, das mit Plastikzelten, UNHCR-Containern und staubigen Straßen wenig Abwechslung oder gar Schönheit bietet. So sind die ersten Tage vor allem für uns Gäste aus dem friedlichen Europa eine Lehre. Von deutschen Kuschel-Tier-Dokus geprägt fragen wir naiv in die Runde und bekommen unsere Antworten: „Was machen zwei Tiere, die sich treffen?“ „Sie kämpfen!“ „Was könnten sie noch machen?“ „Sich aufessen!“ Gottseidank hat am Schluß Firaz, der Kleinste der Gruppe auch noch eine Frage: „Kommt ihr nächsten Mittwoch wieder?“ Ein kluger Europäer hat nach dem letzten Weltkrieg gesagt, man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen.

Stefan Otteni

ANIMALS MEET

We´re back in Sulaymaniah! After Covid forced us to disrupt our work last year, we physically can meet and start working again with the ensemble of the Sabunkaran Theatre Group. Yet bevor writing about first rehearsals and experiences made in the group, I have to tell you about our theatre efforts in the refugee camps, that are still scattered amidst the dust and heat of the suburbs of Sulaymaniyah, this second largest city of North Iraq. Resetteling, returning home- for many inhabitants it´s either not possible – Assad is reigning Syria more totalitarian then ever – or it would be desatrous for the refugees: even the regions that have been „freed“ from the so-called Islamic State are either politically still unstable, are being resettled by other ethnic groups or left ruined and devoid of infrastructure like schools or hospitals.

That´s why, besides being a humanitarian tragedy for families having been living here for five or more years, it is a blessing that the Kurdish Regional Government of Iraq is still maintaining these camps. This is why we decided to not merely visit the camps in showing our performances like we did all the years before, but to give, for the time we´re here, children´s workshops in theatre and improvisation. After shyly asking STEP, an NGO that builds its work on a long experience with the children of the city, if they would be able to host this workshop – yes, they areable! – there´s a setback shortly before we are about to start our courses: A Corona outbreak in Barika camp renders any direct physical contact, that theatre always relies on, impossible. Once again, the refugee camps are sealed off, with their smartphones the NGOs try to maintain makeshift contact with children and parents.

Foto: Paolo Accardo

Then, during the first week of our stay comes the redeeming news: Because you, the Germans are vaccinated, you can start the courses in small groups. And just as long as this text needs to talk about theater, as much effort and detours it was until we were able to meet the first children in the camps´ improvised rehearsal room. But thanks to STEP, things are going fast: The first courses are scheduled, of the many interested children three groups of six or seven are assembled, and only four days after our arrival early one morning we´re sitting on a carpet with a group of bubbling Syrian children.

Foto: Paolo Accardo

We are just as excited as them, and start with ball games to get to know them individually. Soon we realize that for some of the children even saying one’s own name aloud to the group is a big effort. (and a lot of fun for some: little Mohammed keeps saying his name over and over again and laughs at us with all he has). So before encouraging anything like theatrical expression, we´ll first work on what German educators clumsily call „strengthening of the self“. 

The very next game – „show us how your favorite animal moves“ – shows us how the kids´ development differs within the group. We decided that everyone is welcome in the room, even those who just shyly sit apart and keep shaking their heads at everything we offer, as we can only guess (and will learn bit by bit in the coming days) what they have gone through before they came here.

Another thing we learn is, that the childrens´world is a lot poorer in sensual experiences than that of their European peers, because – it´s as sad as it is simple – many have spent the longest part of their short lives in this refugee camp, a surrounding that, with its plastic tents, UNHCR containers and unpaved dusty streets, offers no stimulation or let alone beauty to these kids. So the first days in the camp turns out to be above all a lesson for us, the guests from rich peaceful Europe. Influenced by sweet and cuddly German TV documentaries, we naively ask the group – and get our answers straight: „What are two animals doing when they meet?“ „They fight!“ „What else could they be doing?“ „Eat each other!“ Yet at the end of the day, Firaz, the smallest boy of the group, has one more question: „Will you come back next Wednesday?“ After World War II one wise European said: You have to imagine Sisyphus as a happy man.

Stefan Otteni

JULI 2021 : LIEBER GENERAL …

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Es fühlt sich unwirklich an: Ich bin zum ersten Mal wieder auf dem Weg zu meiner geliebten Theatergruppe. 18 Monate Pandemie haben genügt, um dieses Gefühl surreal aber auch kostbar werden zu lassen. Im letzten Jahr musste unser intensiver Theateraustausch ausfallen und wurde durch ein dürres Netz aus Video- und WhatsApp-Calls ersetzt. Alles kein Ersatz für einen Theatermenschen – und schon gar nicht für ein Ensemble wie die SABUNKARAN THEATRE GROUP, das sich auch schon ohne Viren dauernd verändert und immer auf einer verletzlichen Kippe steht.

            Ich bin also wieder auf dem Weg: Wieder Istanbul mit seinen aufdringlichen Angeboten einer aufsteigenden Weltstadt, wieder die nächtliche Landung in der Hitze des Nordirak. Ich fahre tatsächlich zu einer Theaterpremiere, die 4218 Kilometer von meinem Heimatort entfernt ist! Alle meine Freunde in Deutschland halten mich für verrückt. Aber ich bin geimpft und habe viele selbstgeschmierte Proviantbrote dabei.

            Radwan, der Regisseur dieser Premiere, holt mich ab – er hat darauf bestanden, mir diesen Freundschaftsdienst mitten in der Nacht zu erweisen. Wir sind beide aufgeregt: Es ist alles wie sonst – und gleichzeitig alles anders. Wir fahren durch die nächtliche Stadt, aufgekratzt und übermüdet. Nur die ächzende Klimaanlage des Klosters ist noch die Alte, bemerke ich, als ich in meinem Gästezimmer vergeblich versuche einzuschlafen.

            Aber am nächsten Tag, dem Tag der Premiere wird klar: Hier in unserem Ensemble ist seit letztem Jahr vieles anders, vieles zu Guten anders: Der Regisseur kauft zwar immer noch selbst den Teppich für die knarzende Bühne, dieses mittlerweile arg fleckige Gerüst, das wir 2016 für unser erstes Stück gebaut haben. Die Schauspieler kommen, freuen sich zwar über den überraschenden Besuch des „almani majnun“ (verrückten Deutschen) –  aber dann gehen sie zu ihrem warm up, Stimmübungen und der Konzentration im Kreis die sie neu eingeführt haben.

            Und dann das Stück! Aus Arrabals berühmten „Brief an General Franco“ (von 1974) und Texten aus der „Odyssee“ (von 730 vor Christus) machen Radwan Taleb und das Ensemble von einigen mir bekannten und vielen neuen Spielern einen Abend, der in seiner formalen Kraft und inhaltlichen Schärfe alles übertrifft, was wir in dieser Gruppe je gemacht haben. Wann immer die Spieler vom faschistischen „Espanja“ sprechen, ist allen im Publikum klar, wen die syrischen, irakischen, kurdischen Schauspieler:innen eigentlich meinen. Entsprechend konzentriert ist die Atmosphäre auf beiden Seiten im Klostergarten. Selbst der Aufruf des Regisseurs, die Aufführung nicht zu filmen, wird befolgt – eine Errungenschaft, die man nur schätzen kann, wenn man noch nie arabisches Theater gesehen hat. Radwan hat in dieser Zeit auf vielen Ebenen Erstaunliches geleistet.

            Abouna Jens, der Leiter des Klosters Maryam Al-Adhra, der sonst nichts von großen Worten hält, improvisiertnach der Premiere eine ergreifende Rede: „Als wir vor sechs Jahren diese Theatergruppe gegründet haben, haben wir uns nicht träumen lassen, dass ihr einmal eine solche Aufführung macht. Ihr seid jetzt wirklich ein Ensemble geworden.“ Stolze Spieler, die diese Worte sichtlich genießen.

            Auch ein Zuschauer, der unter den vielen kurdischen und arabischen Premierengästen auffällt, spart nicht mit Lob: Ein europäisch wirkender Mann, dem ich vor der Vorstellung noch ahnungslos zugeraunt habe: „Ich hoffe, sie können ein bisschen kurdisch UND arabisch“ – stellt sich, seine Anonymität nur widerwillig aufgebend, als (natürlich perfekt kurdisch und arabisch sprechendes) Mitglied des UNO-Sicherheitsrates vor: Er ist von Dohuk knapp 400 Kilometer irakische Landstraße gefahren, um diese Vorstellung zu sehen. Zur Vorbereitung hat er extra Arrabals berühmten „Brief an Franco“ gelesen und spart nicht mit Lob. Das Ensemble ist beglückt und beeindruckt ob solcher Zuschauer.

„Lieber Herr General – es muss anstrengend sein, so viel Böses zu tun.“ Dieser Satz steht als große Überschrift über diesem so besonderen Abend. Aber jetzt zählen für das erschöpfte Ensemble erstmal die kurdischem Köfte und das türkische Bier, die das Kloster spendiert hat. Der Verrückte Deutsche ist diesmal ausnahmsweise nicht miterschöpft, sondern darf – was für eine schöne Abwechslung – den Erfolg dieser Produktion als Gast genießen.

Stefan Otteni