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Die Arbeit der Gruppe ist dieses Jahr eine Besondere: Nach der anspruchsvollen und perfekt getimten Aufführung von „Brief an den General“ (Siehe den Beitrag „Lieber General“ weiter unten), ist der Anspruch groß und unser Material scheinbar bescheiden: Wir wollen nach den textlastigen Produktionen der letzten Jahre, dieses Mal weitgehend ohne Worte arbeiten. Handkes „Stunde da wir nichts voneinander wussten“, sein stummes Stück über den Platz, der von hunderten Figuren und Kurzdramen bevölkert wird, scheint dem Ensemble erstmal ein Rückschritt zu sein. Nur einige ziehen die Verbindung zu den politischen Umwälzungen, die gerade im Irak vor allem auf öffentlichen Plätzen stattfinden.
Die meisten der Schauspieler:innen aber tun sich schwer mit dem schieren Lesen dieses Stücks, das nur aus Regieanweisungen besteht. Erste Übungen zu Körperhaltungen und verschiedenen Arten zu gehen, scheinen ihnen interessant aber abstrakt. Erst als wir auf den hiesigen Marktplatz gehen und ich die Schauspieler dort bitte, die vielen hundert Menschen zu beobachten, ihre Körper, Kinder und Partner – erst da scheint das Stück wirklich konkret zu werden. Und „von hier“ wird es, als ich sie bitte, aufzuschreiben, was ihrer Meinung nach im deutschen Handke fehlt, wenn er sich auf einen italienischen Platz setzt. Was ist auf arabischen Plätzen anders? Der Mann, der mit seinem kleinen Sohn Dörrobst isst, die Verkäufer an den Karren mit ihren müden Körpern und wachen Augen, die Frauen, die ihre kleinen Kinder wie Taschen tragen – und vor allem die minderjährigen Tütenverkäufer, die uns zunehmend entgeistert umkreisen: Soeine große Gruppe, die solang auf dem Markt bleibt und nicht einePlastiktüte kauft.
Auch wenn wir die Kinderarbeit in Kurdistan mit diesem Projekt nicht lindern können – das macht Siraj, einer unserer engagiertesten Spieler, der tagsüber als Sozialarbeiter im STEP Day Center den arbeitenden Kindern des Marktes einen safe space anbietet, an dem sie sich erholen und Kinder sein können – haben wir doch einiges begriffen: dass hinter jedem aufdringlichen Wasserverkäufer eine Geschichte steckt, die es wert ist, mit Peter Handke erzählt zu werden. Motivierter fängt das Ensemble jetzt an, zu entwickeln, was Brecht „soziale Genauigkeit“ nennt: Körperhaltungen werden auf ihre Realität untersucht und dann erst zugespitzt, die Übungen von Choreograf Paolo werden als Vorstufen für eine artifizielle, radikalere Körperlichkeit begriffen, die dieses Jahr entwickelt werden soll.
Entwickelt werden soll aber auch der Zusammenhalt der Ensemblemitglieder, die völlig verschiedener Herkunft sind: Geflüchtetenbiografien aus Aleppo und Qamishli im kurdischen Teil Syriens treffen auf hier Ansässige wie Serwar, der gerade die Slemani Academy of Dramatic Arts beendet hat, Rikawt, der mit seinem Bruder einen Barbershop betreibt und Danyar, der seinen massigen Körper Abend für Abend rücksichtslos in die Proben wirft – und in den Pausen alle davon überzeugen will, dass „Metallica“ die beste Band ever ist.
Wir werden beschenkt von der Großzügigkeit mit der die Spieler noch die kleinste Fingerübung Handkes zum Leben erwecken: Ishraq, die aus Palästina kommt und hier in Kurdistan schon seit Jahren auf ihr Visum wartet, überrascht uns immer wieder mit Improvisationen, die so mutig und persönlich sind, dass eine Unterscheidung zwischen „Profi“ und „Laie“ wieder mal unsinnig ist, und Theater zu seiner Quelle zurückkehrt: Man hat etwas zu sagen, man geht auf die Bühne und sagt es.
Als sie jemanden spielen soll, der stirbt, kriecht sie auf dem Boden durch den dunklen Probenraum, schält sich am Ende des Zimmers aus der Decke, schnappt nach Luft und stirbt, schnell und undramatisch. Was hat sie da gespielt? Wir glauben kaum, was sie erzählt: Ihr palästinensischer Bruder ist in einem israelischen Gefängnis, auf Jahrzehnte verurteilt. Sechs Mitgefangene aus Ishraqs Heimatstadt haben vor einigen Wochen einen Tunnel gegraben und sind den Israelis entkommen. Vier wurden wieder gefasst. das hat sie versucht darzustellen: Ein Mensch, der im Moment in dem er die Freiheit erlebt, wieder aufgeben muss.
Stefan Otteni