Während wir Abends bei den Schauspielerproben mit Handke, Brecht und Corona ringen, geht tagsüber die Arbeit in den Geflüchtetencamps weiter: Mit den Kindern sind wir jetzt bei der Übung „Die Magischen Schuhe“ angelangt, eigentlich eine alte Peter-Brook-Szene die er auf afrikanischen Marktplätzen entwickelt hat: Du findest auf dem Platz ein paar Schuhe, du ziehst sie an, sie verwandeln dich – und wir fügen dazu: in das, was du schon immer sein möchtest.
Denn was sie schon immer sein möchten, ist das Letzte, was diese Geflüchtetenkinder in den Camps jemand fragt. Auf diese Art versuchen wir ihnen sinnlich zu vermitteln: Im Theater ist alles möglich, wenn du es dir vorstellst. Auf diese Art werden im kargen Container der NGO STEP in den nächsten Wochen viele neue Figuren geboren: Der junge Spiderman (er besiegt alle Feinde und steht danach in der Sonne), der Gott Krishna (er beruhigt die Tiere, die die anderen Kinder spielen müssen), mehrere Cinderellas (sie tanzen so schön, dass der Prinz sie aus ihrem Leben rausholt). Viele Vorbilder aus Holly- und Bollywood sind dabei, aber auch ganz Eigenes: Eines der kleinsten Mädchen möchte der Wind sein, und Nasreen, sonst die Lauteste der Gruppe, „die Musik“. Und sie wird mich ganz erstaunt anschauen, als ich sie frage, wie ich ihr dabei helfen kann – natürlich indem ich ganz wunderbare Musik in ihrer Szene laufen lasse. Die Kinder wollen gar nicht mehr aufhören mit den „magic shoes“, so notwendig scheint für ihr Leben eine Perspektive, die sie selbst gestalten.
Viele wollen aber auch Lehrer oder Arzt sein. So beschließen wir in der folgenden Woche eine realistische Theaterebene einzuführen, die „Krankenhaus für alle“ heißt: ich verbringe die Stunden damit: „Dr. Mahmut bitte in den OP“ zu rufen, und Dr. Nawroz zu beraten, wie sie den Jungen mit dem verletzten Kopf am besten röntgt. (Zu Beginn meines Aufenthaltes war ich gestürzt, und das Röntgenbild meines gebrochenen Zehs entpuppt sich als großer Hit.)
Wenn die Fantasie stockt bitte ich sie, der Gruppe zu erzählen, wann sie das letzte Mal einen Arzt gebraucht haben – und die Krankengeschichten, die sich da in der Sprache der Kinder andeuten sind herzzerreißend: medizinisch unterversorgt, von einer Intensivmedizin der 1. Welt ausgeschlossen, spielen sie sich Visionen von Ärzten herbei, die irgendwo zwischen Krishna und Dr. House liegen: nicht eine heile, sondern eine heilende Welt, mitten im NGO-Container, in dem eine wummernde Klimaanlage völlig überfordert für ein wenig Kühlung sorgt.
Überraschend kommt die Übung plötzlich an einen kritischen Punkt: Ein Mädchen, das angetreten ist, sich in den „stärksten Menschen der Welt“ zu verwandeln, bitte ich, wie alle zuvor, die Kraft der Schuhe fühlen, bevor sie ihre Fantasie beginnt. „Ich spüre nichts. Ich spüre nichts“ ruft sie immer wieder und glaubt, es liege an ihr. Nichts hilft: keine Musik, keine gelenkte Fantasiereise mit geschlossenen Augen. Kann Theater doch nicht alles? Nach der Übung hat sie immer noch nichts gespürt: Ich versuche ihr das Prinzip zu erklären, dass man aktiv in die Fantasie hineingeht, dass sie einen nicht von außen überfällt. Sie nickt gelehrig und enttäuscht und möchte es in der Woche drauf nochmal probieren. Ich komme mir vor wie ein Wunderheiler, der die Kinder anlügt.
Stefan Otteni