Sich auf Augenhöhe begegnen – im politischen Leben wird das auch Demokratie genannt – ist hier im Irak immer noch ein Wagnis. Während die Proben voranschreiten, bereitet sich der Irak auf nationale Parlamentswahlen vor. Egal wen man darauf anspricht, den preisgekrönten Dokumentarfilmer aus Suleymaniyah, der freundlicherweise wieder unser Stück im Film verewigt, oder den Fahrer, der uns zweimal die Woche mit den anderen NGO-Mitgliedern in die Camps fährt: kaum einer hat vor, zur Wahl zu gehen. (Am Wahltag wird dann mancher von ihnen angerufen und aufgefordert werden, wählen zu gehen, und zwar mit dem Kreuz an einer ganz bestimmten Stelle). Die Selbstgefälligkeit der Parteien, die Korruption der politischen Kaste ist hier unbeschreiblich dreist. Man möchte als überzeugter Demokrat verzweifeln, wie ein System in der irakischen Bevölkerung schon abgeschrieben wird, bevor es auch nur ansatzweise verwirklicht ist. Nur die Protestbewegung der Jugendlichen in Städten wie Bagdad und Basra durchbricht die Lethargie. Im kurdischen Teil Iraks scheint das System in einem Zwei-Parteien-Kampf wie eingefroren – kein Protest, nirgends. Der Schock von 2011, als die dortigen Proteste zerschlagen wurden, sitzt tief.

Bei uns im Ensemble bedeutet sich auf Augenhöhe zu begegnen, dass sich die Schauspieler dieses Mal selbst aussuchen, welche der 800 Figuren in Handkes stummen Stück ihrem Leben am meisten entsprechen: Die stolpernde Sekretärin, das schreiend sterbende Bündel oder der vom Tod verschonte Sohn Abrahams. Die Wahl geht langsam vor sich, vielleicht aus fehlender Übung, vielleicht auch weil die vorübergehenden Figuren so ungreifbar sind. Wahrscheinlich aber auch, weil sie nicht gewohnt sind, als Künstler so persönlich für ihre Sachen einzustehen.

Ich versuche ihnen zu erklären: Weil wir auf ein aufwendiges Kostümkonzept verzichten, werden die einzelnen Figuren vom Publikum wahrscheinlich eher als durchgehende Performer-Persönlichkeit wahrgenommen. Und so fangen die Spieler an, sich eine Schneise durch den Figuren-Wirbel des Handke-Platzes zu schlagen. Auch ungewöhnliche Wünsche werden angenommen: Ausgerechnet Friederike, die in der Gemeinschaft Mar Musa als Schwester lebt, möchte gerne den „hinkenden Hund eines hinkenden Mannes“ spielen. Wird sie.

Es ist so schön wie gespenstisch, wie sich das eigentlich unpolitische Stück Handkes in den Händen der Schauspieler zu einem selbst durchlittenen politischen Kommentar auf die Lage des Landes und der arabischen Gesellschaften entwickelt: Jetzt, da sie ihren falschen Respekt vor dem nobelpreisgekrönten europäischen Großdichter abgelegt haben, werden die Improvisationen fordernder und in den Proben, die jetzt immer öfter unter freiem Himmel stattfinden, stürmen Soldaten durch den abendlichen Klostergarten, werden Todesurteile verschoben, Ehen begraben und Parabeln von stillem Widerstand erzählt. 

Foto: Jens Petzold

Keiner kann sich bis jetzt vorstellen, wie das mal zusammengebaut werden soll (ehrlich gesagt auch der Regisseur nicht) und die Wochen gehen schneller vorbei als wir dachten. Was als eine Schule der Bewegung mit vielen fordernden Körper-Übungen von Choreograf Paolo begann, droht jetzt doch wieder zum Endproben-Stress zu werden, vor allem, wenn man die Probenzeit um die zum Teil fordernden Berufe der Schauspieler herum disponieren muss.

Dann erstmal das Ende: Ausgerechnet eine der engagiertesten Spielerin, Rawaa – die sich für die stolpernde Sekretärin regelmäßig in den Dreck schmeißt und sich sogar angeboten hat, die Opferziege für Abraham zu spielen – wird bei den regelmäßigen Coronatests, die wir als gute Arbeitgeber zweimal die Woche im Ensemble durchführen, auf einmal positiv getestet und muss in Selbstisolation. Ihre ganze Familie hat es erwischt. Wir versorgen sie mit einer Familienpackung Lidl-Schnelltests. Tieftraurig schickt Rawaa uns per WhatsApp die Fotos der täglichen Teststreifen. Der Regisseur tröstet die weinende Schauspielerin (und sich) am Telefon mit der Halblüge, dass Corona bei manchen nur eine Woche dauert. Der Komplettausfall und die Umbesetzung von Rawaa wäre für sie eine Tragödie: Sie wird im November in die USA emigrieren, das hier wäre für die theaterbegeisterte junge Studentin ihre letzte Arbeit mit uns. Das Ende der gesamten Produktion steht nun zur Diskussion, zumal uns auch andere Krankheitsfälle beuteln. Es hat dieses Jahr im Irak kaum geregnet und selbst das gefilterte Trinkwasser ist so schlecht, dass die Leute reihenweise mit Bakterieninfektionen zu Boden gehen.

Nachts schaue ich dann per Internet nach langer Zeit wieder mal „Tagesthemen“ und merke, dass selbst nach der Wahl in Deutschland kein Politiker über den Rest der Welt redet, nicht über den Irak, den Iran, nicht über Afghanistan – eigentlich über nicht viel anderes als Koalitions-Selfies und die 7-Tage-Inzidenz im Landkreis Schmalkalden-Meiningen. Ist dieses Germany First wirklich das System, das Länder wie der Irak noch lernen müssen?

Stefan Otteni