Um die Aufführungen zu planen, gehen wir in den Camps jedes Jahr zu den sogenannten „Sheiks“, den selbstgewählten Vertretern der Lagerbewohner*innen. Die Campleitung findet das unnütz, aber wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, um mit den Leuten vor Ort wirklich in Kontakt zu kommen: Wir erzählen Ihnen, was die diesjährige Aufführung bringen wird und bitten sie, gute Frauen und Männer für die neighbourhood security zu finden. Das sind Menschen aus den Camps, die bei den Aufführungen im Publikum sitzen und aufpassen, besonders wenn die aufgeregten Kinder schon mal die Bühne stürmen wollen.
Dieses Mal sind es besonders viele Scheiks, die uns, der Schwester aus dem Kloster, dem Theatermann aus Deutschland und der Übersetzerin aus einem der Camps gegenübersitzen. Männer, wie sie sich der kleine Stefan beim Lesen von „Tausend und eine Nacht“ damals vorgestellt hat: stattlich, in weißen Jalabiyas, weiße Tücher um den Kopf, ihre Gebetsketten flitzen durch die kräftigen Hände.
Diesmal müssen wir gar nicht so viel erklären: Einige kennen uns von den letzten Jahren und versprechen, dass sie auch diesmal ihre Frauen zu den Aufführungen gehen lassen. Trotzdem ist es immer eine Gratwanderung, sie zu unseren Abenden einzuladen, sind doch einige Bewohner kulturell meilenweit von einem europäischen Theaterverständnis entfernt.
Als ich meine Ansprache beendet und wir schon lange ihre Zeit beansprucht haben, frage ich, eher aus Höflichkeit, in die Runde, ob sie noch Fragen haben. Einer der Sheiks sagt Ja: Er möchte jetzt mal etwas sagen. Er habe festgestellt, dass Deutschland das einzige Land sei, das wirklich alle Menschen aufnehme, egal ob Muslime, Jesiden oder Christen. Und dort würden alle Neuankömmlinge gut und fair behandelt, das würden ihm Verwandte und Freunde immer wieder aus Deutschland berichten. Diese Frau Merkel würde die Geflüchteten als Menschen respektieren, dafür seien alle hier sehr dankbar, und ich solle ihr doch unbedingt ausrichten, das sei außergewöhnlich anständig von ihr.
Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll: da sitzt ein syrischer Sheik, optisch eigentlich das pure Schreckensgespenst jedes AfD-Wählers und äußert eine derart profunde Meinung über die deutsche Flüchtlingspolitik, dass man glaubt, er wird gerade falsch übersetzt. Ich sage dem Sheik, dann doch etwas: Dass ich Frau Merkel gar nicht persönlich kenne, aber versuchen werde, diesen Dank auszurichten. (Und beschließe sofort, ihr einen Brief zu schreiben, wenn ich wieder Zuhause bin.)
Alle drei gehen wir nachdenklich zum Pickup zurück. Nach einem langen Schweigen hinterm Steuer auf der Straße zwischen den verbrannten Hügeln Kurdistans sagt dann Friederike: „Also egal, wie man Merkel findet, eins hat sie geschafft: Wenn man früher sagte, dass man Deutscher ist, sagte jeder immer: „Ah, Hitler.“ Heute werden, beim Stichwort Deutschland die Gesichter heller und alle sagen: „Ah, Merkel.“
Stefan Otteni