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Es fühlt sich unwirklich an: Ich bin zum ersten Mal wieder auf dem Weg zu meiner geliebten Theatergruppe. 18 Monate Pandemie haben genügt, um dieses Gefühl surreal aber auch kostbar werden zu lassen. Im letzten Jahr musste unser intensiver Theateraustausch ausfallen und wurde durch ein dürres Netz aus Video- und WhatsApp-Calls ersetzt. Alles kein Ersatz für einen Theatermenschen – und schon gar nicht für ein Ensemble wie die SABUNKARAN THEATRE GROUP, das sich auch schon ohne Viren dauernd verändert und immer auf einer verletzlichen Kippe steht.

            Ich bin also wieder auf dem Weg: Wieder Istanbul mit seinen aufdringlichen Angeboten einer aufsteigenden Weltstadt, wieder die nächtliche Landung in der Hitze des Nordirak. Ich fahre tatsächlich zu einer Theaterpremiere, die 4218 Kilometer von meinem Heimatort entfernt ist! Alle meine Freunde in Deutschland halten mich für verrückt. Aber ich bin geimpft und habe viele selbstgeschmierte Proviantbrote dabei.

            Radwan, der Regisseur dieser Premiere, holt mich ab – er hat darauf bestanden, mir diesen Freundschaftsdienst mitten in der Nacht zu erweisen. Wir sind beide aufgeregt: Es ist alles wie sonst – und gleichzeitig alles anders. Wir fahren durch die nächtliche Stadt, aufgekratzt und übermüdet. Nur die ächzende Klimaanlage des Klosters ist noch die Alte, bemerke ich, als ich in meinem Gästezimmer vergeblich versuche einzuschlafen.

            Aber am nächsten Tag, dem Tag der Premiere wird klar: Hier in unserem Ensemble ist seit letztem Jahr vieles anders, vieles zu Guten anders: Der Regisseur kauft zwar immer noch selbst den Teppich für die knarzende Bühne, dieses mittlerweile arg fleckige Gerüst, das wir 2016 für unser erstes Stück gebaut haben. Die Schauspieler kommen, freuen sich zwar über den überraschenden Besuch des „almani majnun“ (verrückten Deutschen) –  aber dann gehen sie zu ihrem warm up, Stimmübungen und der Konzentration im Kreis die sie neu eingeführt haben.

            Und dann das Stück! Aus Arrabals berühmten „Brief an General Franco“ (von 1974) und Texten aus der „Odyssee“ (von 730 vor Christus) machen Radwan Taleb und das Ensemble von einigen mir bekannten und vielen neuen Spielern einen Abend, der in seiner formalen Kraft und inhaltlichen Schärfe alles übertrifft, was wir in dieser Gruppe je gemacht haben. Wann immer die Spieler vom faschistischen „Espanja“ sprechen, ist allen im Publikum klar, wen die syrischen, irakischen, kurdischen Schauspieler:innen eigentlich meinen. Entsprechend konzentriert ist die Atmosphäre auf beiden Seiten im Klostergarten. Selbst der Aufruf des Regisseurs, die Aufführung nicht zu filmen, wird befolgt – eine Errungenschaft, die man nur schätzen kann, wenn man noch nie arabisches Theater gesehen hat. Radwan hat in dieser Zeit auf vielen Ebenen Erstaunliches geleistet.

            Abouna Jens, der Leiter des Klosters Maryam Al-Adhra, der sonst nichts von großen Worten hält, improvisiertnach der Premiere eine ergreifende Rede: „Als wir vor sechs Jahren diese Theatergruppe gegründet haben, haben wir uns nicht träumen lassen, dass ihr einmal eine solche Aufführung macht. Ihr seid jetzt wirklich ein Ensemble geworden.“ Stolze Spieler, die diese Worte sichtlich genießen.

            Auch ein Zuschauer, der unter den vielen kurdischen und arabischen Premierengästen auffällt, spart nicht mit Lob: Ein europäisch wirkender Mann, dem ich vor der Vorstellung noch ahnungslos zugeraunt habe: „Ich hoffe, sie können ein bisschen kurdisch UND arabisch“ – stellt sich, seine Anonymität nur widerwillig aufgebend, als (natürlich perfekt kurdisch und arabisch sprechendes) Mitglied des UNO-Sicherheitsrates vor: Er ist von Dohuk knapp 400 Kilometer irakische Landstraße gefahren, um diese Vorstellung zu sehen. Zur Vorbereitung hat er extra Arrabals berühmten „Brief an Franco“ gelesen und spart nicht mit Lob. Das Ensemble ist beglückt und beeindruckt ob solcher Zuschauer.

„Lieber Herr General – es muss anstrengend sein, so viel Böses zu tun.“ Dieser Satz steht als große Überschrift über diesem so besonderen Abend. Aber jetzt zählen für das erschöpfte Ensemble erstmal die kurdischem Köfte und das türkische Bier, die das Kloster spendiert hat. Der Verrückte Deutsche ist diesmal ausnahmsweise nicht miterschöpft, sondern darf – was für eine schöne Abwechslung – den Erfolg dieser Produktion als Gast genießen.

Stefan Otteni