Zurück zum 4. November

Man muss nochmal zurückgehen und das genau beschreiben: Friederike, eine christliche pazifistische Nonne erklärt sich nicht nur bereit, in Combat-Uniform eine Peshmerga-Kämpferin zu spielen, sie hat auch zusammen mit dem Klosterleiter, Abouna Jens, erreicht, dass uns die Peshmerga-Kämpfer, die uns vor unserem Kloster 24 Stunden am Tag bewachen, eine voll funktionsfähige Kalaschnikow AK 47 leihen. Dann kommt der Tag, das schwere Gerät wird in einer Sporttasche übergeben. Abt Jens musste die Wache überreden, dass sie überhaupt den entscheidenden Stift rausnehmen, um die Waffe garantiert schießunfähig zu machen. Auch den Brief, den sie uns schreiben, damit wir eine Berechtigung haben, diese Waffe durch die Stadt zu bugsieren, kommt erst auf unseren Wunsch zustande.

Dann ziehen sich die Nonne und der Abt zum »Waffenappell«, wie es der Deutschschweizer Jens nennt, zurück und üben. Auf einer Kinderbettdecke wird das Gerät postiert, begutachtet, erprobt und gelobt. Nur kurz darf ich zum Fotografieren dabei sein, denn alle sind sich des absurden Vorgangs bewusst. »Wir müssen uns fürs Theater auch moralisch verkleiden«zitiere ich immer wieder meinen alten Schauspiellehrer, aber in der Praxis ist das dann doch unüblich, absurd und großartig, dass man in einem christlichen Orden den Krieg übt. Das Theater kommt hier an ganz andere Grenzen als sonst in Europa.  Zwei Wochen später wird Friederike diese Waffe professionell durchladen, unseren Hauptdarsteller mit dem Tod bedrohen – und die Stirn in Falten legen, wenn ich ihr nach der Probe sage, dass sie immer noch zu weich ist. 

Unterdessen werden in Rojava, dem kurdischen Gebiet, dass sich Erdogan unter die Nägel reißt (dank eines sagenhaften Machtvakuums, kreiert durch einen dummen Trump und einen schlauen Putin), täglich kurdische Muslime und christliche Priester abgeschlachtet, ohne dass es die SPD bei ihrer Urwahl oder die CDU bei ihrem Parteitag stört. Siraj, einer unserer Schauspieler, der in Qamishli Familie hat, stürmt während der Proben immer wieder von der Bühne, weil er von seinen Verwandten unerwartete Anrufe bekommt. Währenddessen sagt Friederike auf arabisch in ihrer Rolle immer wieder mit der Kalaschnikow im Anschlag: 

»Was ist los mit dieser Nation? In diesem Krieg stehen sich nicht zwei unterschiedliche Religionen und nicht zwei unterschiedliche politische Strömungen gegenüber. Nein, nichts als zwei Menschen, die einander wie zwei Raubtiere grundlos zerfleischen. Ich sage dir, die Menschlichkeit ist wie ein Licht, das ständig an- und ausgeht. Dass es stetig brennt und uns leuchtet, das habe ich noch nicht erlebt.«

Stefan Otteni

© Jens Petzold