Alle sind aufgeregt: Heute sehen wir zum ersten Mal unseren Aufführungsort. Die Alte Tabakfabrik kennen wir zwar vom letzten Jahr – aber eigentlich müsste das Gelände TabakStadt heißen, so viele Gebäude sind, mitten im Stadtzentrum, direkt an der Haupteinkaufsstraße von Sulaymaniyah, in diesem Komplex versammelt. Einige verfallen malerisch, wie unser letztjähriger Spielort – andere werden liebevoll von einer Künstlerinitiative renoviert. Khabat Marif, ein Leiter der Gruppe, führt uns. Er hat lange in Wien gelebt und verbreitet mit seinem österreichischen Akzent in einer alten irakischen Fabrik surreale Gefühle. Viel hat sich dort seit letztem Jahr getan: Wir laufen durch Kunstaustellungen mit Fotos, die einem Gursky in nichts nachstehen – der einzige Unterschied ist: Der Künstler ist ein bescheidener introvertierter Mann, der uns selbst seine Bilder zeigt.

Großzügig bietet uns Khabat noch ungenutzte Räume an, die wir in unseren Endproben belegen können. Er erklärt uns: Je mehr Kunst in diesen Räumen stattfindet, desto mehr profitieren die anderen Künstler davon. Zum Beispiel wir, die Deutschen, mit dem vergleichbar dicken Etat für eine einzige Produktion.

Wir entscheiden uns für einen loftartigen Raum mit Säulen, viel kleiner als die Halle im letzten Jahr. War bei Beckett die Verlorenheit der Figuren im Raum wichtig, ist bei Alis dichtem, fordernden und poetischem Text die Nähe zu den Zuschauern elementar.

©  Paolo Accardo

Viele Entscheidungen sind zu treffen: Wie viele Aufführungen sollen wir ansetzen – der Autor ist ein bekannter Mann im Land, das Interesse scheint gewiss. Aber auch: Wieviel Abende können die Schauspieler neben ihrem Leben mit Aufführungen stemmen? Wann folgen die Gastspiele in den Flüchtlingslagern? Und: Wo zum Teufel sind die Steckdosen für den Starkstrom? Können wir dieses Mal dem Elektrizitätswerk der Stadt vertrauen, dessen Strom letztes Jahr dauernd ausgefallen ist?

Wie immer sind wir, wie wir durch die heiße Halle gehen, viel mehr als nur Regisseur und Choreograph, wir sind Disponent, Dramaturg, Technischer Leiter und Presseabteilung in einem. Jedes Jahr kommen wir um eine Produktion aufzuführen und enden damit, ein Theater zu gründen. Man muss sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen, sagt Camus. Wir sind glücklich über unseren Spielort. Und: Es hat dieses Jahr nur 39 Grad.

Stefan Otteni