Sabunkaran Theatre Group

in Sulaymaniyah, Irak

Archive (Seite 3 von 4)

Eine Waffe im Kloster

Zurück zum 4. November

Man muss nochmal zurückgehen und das genau beschreiben: Friederike, eine christliche pazifistische Nonne erklärt sich nicht nur bereit, in Combat-Uniform eine Peshmerga-Kämpferin zu spielen, sie hat auch zusammen mit dem Klosterleiter, Abouna Jens, erreicht, dass uns die Peshmerga-Kämpfer, die uns vor unserem Kloster 24 Stunden am Tag bewachen, eine voll funktionsfähige Kalaschnikow AK 47 leihen. Dann kommt der Tag, das schwere Gerät wird in einer Sporttasche übergeben. Abt Jens musste die Wache überreden, dass sie überhaupt den entscheidenden Stift rausnehmen, um die Waffe garantiert schießunfähig zu machen. Auch den Brief, den sie uns schreiben, damit wir eine Berechtigung haben, diese Waffe durch die Stadt zu bugsieren, kommt erst auf unseren Wunsch zustande.

Dann ziehen sich die Nonne und der Abt zum »Waffenappell«, wie es der Deutschschweizer Jens nennt, zurück und üben. Auf einer Kinderbettdecke wird das Gerät postiert, begutachtet, erprobt und gelobt. Nur kurz darf ich zum Fotografieren dabei sein, denn alle sind sich des absurden Vorgangs bewusst. »Wir müssen uns fürs Theater auch moralisch verkleiden«zitiere ich immer wieder meinen alten Schauspiellehrer, aber in der Praxis ist das dann doch unüblich, absurd und großartig, dass man in einem christlichen Orden den Krieg übt. Das Theater kommt hier an ganz andere Grenzen als sonst in Europa.  Zwei Wochen später wird Friederike diese Waffe professionell durchladen, unseren Hauptdarsteller mit dem Tod bedrohen – und die Stirn in Falten legen, wenn ich ihr nach der Probe sage, dass sie immer noch zu weich ist. 

Unterdessen werden in Rojava, dem kurdischen Gebiet, dass sich Erdogan unter die Nägel reißt (dank eines sagenhaften Machtvakuums, kreiert durch einen dummen Trump und einen schlauen Putin), täglich kurdische Muslime und christliche Priester abgeschlachtet, ohne dass es die SPD bei ihrer Urwahl oder die CDU bei ihrem Parteitag stört. Siraj, einer unserer Schauspieler, der in Qamishli Familie hat, stürmt während der Proben immer wieder von der Bühne, weil er von seinen Verwandten unerwartete Anrufe bekommt. Währenddessen sagt Friederike auf arabisch in ihrer Rolle immer wieder mit der Kalaschnikow im Anschlag: 

»Was ist los mit dieser Nation? In diesem Krieg stehen sich nicht zwei unterschiedliche Religionen und nicht zwei unterschiedliche politische Strömungen gegenüber. Nein, nichts als zwei Menschen, die einander wie zwei Raubtiere grundlos zerfleischen. Ich sage dir, die Menschlichkeit ist wie ein Licht, das ständig an- und ausgeht. Dass es stetig brennt und uns leuchtet, das habe ich noch nicht erlebt.«

Stefan Otteni

© Jens Petzold

Premierentagebuch

© THE SABUNKARAN THEATRE GROUP
Trailer »Der letzte Granatapfel«

Heute ist Premiere, und wenn sich der Regisseur sonst an diesem Tag zurücklehnen kann, sein Premierenhemd bügelt und nach der Generalprobe so dumme Sätze sagen kann wie: »Es ist alles da, ihr müsst es nur noch spielen« – ist hier in Sulaymaniyah, in der alten Tabakfabrik erstmal nichts da: Die letzte Zuschauertribüne fehlt noch, am besten hilft man selber mit, denn Shahin, der Techniker ist auch derselbe, der mit mir heute Nacht bis um vier Uhr morgens die Beleuchtungsstimmungen gemacht hat. Er ist neben Technischem Leiter, und Bühnenarbeiter auch noch Chefbeleuchter (weil der einzige), Disponent, Cateringchef und Hausmeisterberuhiger (ja, auch das gibt es in Kurdistan: besorgte Hausmeister, die alles verbieten, was nicht mit fünf Stempeln erlaubt ist).

Dann muss noch das Gemüse gekauft werden, als Requisit für den Marktverkäufer, der so elendiglich stirbt, dann die Schuhe des zweiten Sohnes nicht, das Bett des bösen Generals Snauber ist gestern kaputtgegangen und überhaupt brauchen wir noch Wasser, Blumen, Kekse – und die Tränen einer der Spielerinnen müssen getrocknet werden: gestern haben wir noch Text von ihr gestrichen und jetzt ist sie verzweifelt. Die Liste ist lang und die Nerven liegen blank. 

Gestern in der Generalprobe (unser zweiter Durchlauf überhaupt) waren wir zum ersten mal so kompakt, dass man das Stück zeigen kann, wenn Zmnako, unser begnadeter Hauptdarsteller bei den großen Textmassen die Nerven nicht verliert. Kurz: die letzten Tage waren Gewusel, 24 Stunden durcharbeiten, Tränen, Fehler, Mängel und Stromausfall an den wichtigsten Stellen des Stücks. Und dann aber plötzlich wieder das: Gashtyar, unser freundlicher Sitar-Spieler mit der zarten Stimme hat ein Gedicht geschrieben auf unser Stück. Die Musiker sind begeistert, erfinden dazu eine Musik und fragen, an welcher Stelle des Abends man das singen könnte. Wir entscheiden uns, es kurz vor der Pause zu legen, wenn der Vater erfährt, dass er seinen Sohn in der Einzelzelle nicht besuchen kann und nur mit selbst besprochenen Kassetten, die er ihm schickt, in Kontakt kommt. 

Wir legen es ohne zu proben an diese Stelle, die Schauspieler sind überrascht, das Licht fällt – ungelogen – gerade kurz davor wieder aus, der Spieler des Vaters spricht ohne Licht weiter – und dann steigt durch den dunklen weiten Raum der Fabrik Gashtyars zarte Stimme auf und schwebt zwischen die ganzen erschöpften Körper. Als das Licht wieder angeht, sehe ich in den Gesichtern des Ensembles, dass jetzt wieder alle wissen, warum wir diese Geschichte erzählen. 

Nach dem Durchlauf wird derselbe Gashtyar bescheiden fragen, ob er vor der Kritik gehen darf: Seine Mutter ist im Krankenhaus und wurde in der Nacht operiert. Er möchte bei ihr sein, wenn sie aufwacht. Ich weiss nicht was ich sagen soll.

Stefan Otteni

Aus Deutschland ein herzliches TOI TOI TOI an die Sabunkaran Theatre Group zur heutigen Premiere von »Der letzte Granatapfel«!

Maren zimmermann und alle Spender:innen

Probentagebuch Nr. 10

Man würde hier gerne über künstlerische Probleme schreiben – darüber wie man als Deutscher ein Land auf der Bühne schildert, das seine Kriegsvergangenheit nicht aufgearbeitet hat – aber die praktischen Probleme nehmen überhand: Wird der Geheimdienst unsere Aufführung genehmigen? (Mehrere Briefe und Besuche sind notwendig). Kann das Gelände der Tabakfabrik zurzeit überhaupt für Kunst benutzt werden? (Im Moment ist es komplett belagert von Spendenaktionen für die von Erdogan bombardierten Kurdengebiete in Rojava) Soldaten patrouillieren, Demonstrationen blockieren die Hauptstraße. Für unsere Theaterwelt nicht weniger wichtig: Lana, unsere Grafik- Designerin, die in den letzten Jahren unseren optischen Auftritt so maßgeblich geprägt hat, sitzt dieses Jahr in Bagdad – und dort haben sie, genau, als sie uns ihre finalen Entwürfe für das Plakat mailen will –  wegen den immer schärfer werdenden Protesten das Internet abgestellt. „Sie“, das ist die irakische Regierung. Also gibt es dieses Jahr kein Plakat? Und ist das überhaupt wichtig angesichts der Dutzenden Toten, die die jugendlichen Freiheitskämpfer jeden Tag als Blutzoll in Bagdad zahlen? Ist es das, was Muzafar, unsere Hauptfigur meint, wenn sie im Stück den jungen Mohamad Glasherz beschreibt: „Mir scheint, dass er als Einziger die Dinge auf den Grund verstehen wollte. (Sieht ihn tanzen)  Wie schnell und selbstverständlich diese zerbrechlichen jungen Männer gestorben sind! … Die zarten Jugendlichen sind im Innersten bereit für den Tod. Gehört die Bereitschaft zum Sterben zur neuen Epoche?“ 

Das Aufführungsplakat

 Wir hoffen jedenfalls, dass Lana heil bleibt, denn sie versorgt die Protestierenden jeden Tag mit Mundschutz und Gasmasken, was ihr Vater nicht wissen darf, aber er wird es nie erfahren, denn dieser Blog wird nie auf arabisch übersetzt. Und dann bietet sich Mahmood an, einer der Übersetzer, der „nebenbei auch noch Grafikdesigner ist“, ob er nicht das Plakat machen soll. Ja, soll er. 

Während wir endlich den Verkaufskarren kaufen müssen, den die Figur des Saryas als einzigen Gegenstand besitzt. Wir wollen einen ganz alten und haben den Plan, dass wir einem Verkäufer auf dem Markt von Sabunkaran anbieten, ihm dafür einen neuen zu kaufen. Es ist nicht so einfach: Ich als Europäer muss mich eh raushalten, sonst wird der Karren so viel kosten wie ein Gebrauchtwagen, also kann ich nur spielen „ich bin ein bummelnder Tourist“, dabei konspirative Fotos aus der Ferne machen während sich ein Schauspieler, ein Techniker und Harem, der Übersetzer und Alleskönner versuchen, volksnah zu geben und einem der Karrenverkäufer seinen Wagen abzuschwatzen. Die Karrenverkäufer wollen alle nicht verkaufen, bis einer kommt, der misstrauischer ist als alle andern („Sind sie von der Polizei?“) und dann aber sein Glück nicht fassen kann und für die Möglichkeit, einen neuen Karren zu kaufen, uns den alten doch verkauft. Alte Dinge, der Fetisch Europas, zählen hier nichts. 

© Stefan Otteni

 Währenddessen sind die Gleichzeitigkeiten wie immer enorm, währenddessen entwickelt Hast, unser Mohamad mit dem gläsernen Herz, der immer noch mit der Gruppe fremdelt, einen Solotanz , der alle berührt, währenddessen schläft sein Kollege, Sarwar, der Erste Saryas, auf der Probe vor Erschöpfung ungeniert zwei ganze Szenen durch, währenddessen bläst Fatima ihren Verwandtenbesuch in Afrin wegen Bombardierung ab, währenddessen trifft sich im Kloster eine kleine Gruppe Christen zum Seminar „Verliebt in den Islam, im Glauben an Jesus“ währenddessen gibt es draußen vor der Fabrik ein Geräusch, dass wir in Deutschland als Feuerwerk titulieren würden, aber alle andern hier als Gewehrsalven.  Sind wir naiv? Sind wir in Gefahr? Die Nähe zur Gewalt ist fast ein Kennzeichen dieses Landes. Und ich erinnere mich an unsere Aufführung vor zwei Jahren, in der eine Spielerin fast beiläufig erzählt hat, wie sie auf dem Weg zur Schule einen Mord sieht und danach in die Schule geht und einen Mathetest schreibt, weil alles normal weitergeht. 

Müssen wir hier härter werden? Oder ganz im Gegenteil die Zartheit verteidigen? Das letzte Buch des hiesigen Klostergründers bevor er vom IS entführt wurde heißt: „Die Wut und das Licht.“ 

Stefan Otteni

Probentagebuch Nr.9

Endlich ist es soweit. Unsere erste Probe in der Fabrik: Der Ort, in dem wir spielen werden. Zuerst muss er einen ganzen Tag lang geputzt werden. Selbst die Übersetzer kommen freiwillig einige Stunden früher und helfen uns. Dann ist das Stockwerk dreimal geschrubbt und das beste was man sich wünschen kann: Im dritten Stock, zwischen Galerie, Jugendzentrum und Künstlerateliers haben wir jetzt für die nächsten drei Wochen diesen wunderbaren Raum, der genügend Härte hat, um diese traurige, aussichtslose Vater-Sohn-Geschichte zu erzählen – und genug Industrieromantik um Bachtyar Alis Poesie aufleben zu lassen. Allerdings nur in den Worten, nie in der Ausstattung des Abends, denn wir haben uns eine karge Ästhetik verordnet, die dem improvisierten Erzählstil des Romans entgegenkommt  – und uns nebenbei alles Geld das wir in Deutschland gesammelt haben nicht in teure Theaterbilder stecken lässt, sondern in die Entlohnung der Spieler, Übersetzer, Techniker. Alles andere wäre obszön hier, wo jeder drei Berufe hat um über die Runden zu kommen. Diese Entscheidung zieht einen seltsamen Konflikt nach sich: Der Regisseur, der aus dem reichen deutschen Theatersystem kommt, schwelgt in Einfachheit, die jungen irakischen Schauspieler, das äußern sie ganz leise, hätten gerne mehr Effekte „wie in Hollywood, oder wenigsten wie in Bollywood“. Das sieht man an der einzigen Actionszene des Stückes, die alle scheinbar am liebsten proben: Der Sohn der Hauptfigur, ein Karrenverkäufer im Markt von Slemani, wie hier die Kurden ihre Stadt nennen, der die Kinder des Marktes erfolgreich gegen die willkürliche Polizistengewalt verteidigt, ist kurz davor, einen der ungerechtesten Schläger zu töten, legt das Messer gerade noch nieder – und wird dann doch erschossen. 

  „Niemand, kein Licht, keine Erleuchtung, keine göttliche Inspiration kam uns zu Hilfe. Ein Grab, das ihm nicht angemessen war. Ohne Grabstein, ohne Würde, ohne Vater, ohne nichts.“ 

So heißt es im Text. Die Szene ist an Trauer und Sinnlosigkeit nicht zu überbieten. Die Spieler müssen, während sie den Tod des Kollegen spielen, selbst oft weinen, völlig unprofessionell, für mich ein Geschenk, – deshalb probe ich so gerne mit sogenannten Laien. Natürlich wären wir nicht in Kurdistan, wenn nicht mitten in der stillsten Todestrauer im Stock über uns ein Höllenlärm losbricht –  das Jugendzentrum dort hat einen Boxring, direkt über unserem Aufführungsraum. Das ist schön für die Jugend Kurdistans – und eine „Herausforderung“ für uns. Bei den beiden Katzen, die es irgendwie in den dritten Stock geschafft haben, ständig durchs Bild laufen und sich medienwirksam an den Hauptdarsteller schmiegen, wenn er stirbt, weiß man noch nicht, ob sie Fluch oder Segen für unsere Aufführung sind. Wenn ich sie wegjage, mache ich mich bei der gesamten weiblichen Hälfte des Ensembles unbeliebt. Sie werden wahrscheinlich bei der Premiere in zwei Wochen die Hauptrolle spielen. 

Stefan Otteni

Unsere Unterstützer*innen 2019

Unser herzlicher Dank geht an die zahlreichen Spender*innen, die über die Plattform »kickstarter« unsere Arbeit für 2019 finanziell unterstützt haben:

Remsi Al Khalisi + Verena Maria Bauer + Barbara Barth + Fernao Beenkens + Markus Bhonsle + Kathrein Bloess + Petra Blumenroth + Monika Brandl + Michel Brandt + Klaus Braun + Bremer Shakespeare Company + Klaus Cofalka-Adami + Babsi Daum + Nico Degenkolb + Yorck Dippe + Ute Eisinger + Peter Geibel + Birgitt Glöckl + Katharina Gloser + Stephanie Gräve + Carsten Herzberg + Armin Hintze + Marion Hirte + Rita Kämmerer + Ulrich Khuon + Udo Kusch + Bettina Lamprecht + Christoph Lembach + Kathrin Mädler + Rainer Mennicken + Dorle Messerer-Schmidt + Hans Meyer + Hartmut Neuber + Gero Nievelstein + Bettina Ostermeier + Peter Otteni + Wolfgang Peßler + Ewa Rataj + Frieder Reininghaus + Ariane Rindle + Judith Rosmair + Ruedi B. Roth + Christian Salle + Christiane Schleidt + Hinrich Schmidt-Henkel + Franz Bernhard Schrewe + Monika Schuh + Carola von Seckendorff + Monika Sprüth + Margaret Wallace + Dominik Wessely + Brigitte Widmer + Elke Wollmann + Anja Zimmermann + Dieter Zimmermann + Wilfried Zimmermann + Saskia Zinsser-Krys + und viele weitere anonyme Spender*innen.

Außerdem danken wir Shahab Kermani, der uns das Video für den Aufruf zur Verfügung gestellt hat, Martin Fürbringer für technische Hilfestellungen beim Spendenaufruf und Ayumi Ishihara, ohne deren Unterstützung beim Aufsetzen es diesen Blog nicht geben würde.

Probentagebuch Nr. 8

Ein Problem scheint gelöst, wie durch Wunderhand werden wir an den Starkstrom angeschlossen: Einer unser Hauptdarsteller, Zmnako, der als Becketts Estragon letztes Jahr mit seinen Schuh-Nummern die Kinder in den Camps zu Begeisterungsstürmen hingerissen hat, war schon einmal Ansager in genau dem Fernsehsender, der neben unserem Spielort liegt.

Licht in den Tiefen der Tabakfabrik
© Paolo Accardo

Ruckzuck ist ein Termin organisiert mit einem Herrn im Anzug (Der Chef des Senders? Ein Abteilungsleiter? Der Assistent? Wir wissen es nicht), der uns Tee servieren lässt und durch den Übersetzer mitteilt, dass er für die Kunst schon mal ein paar Hundert Ampère springen lässt. Schnell dämmert uns, dass es definitiv NICHT der Assistent sein kann, denn im Minutentakt werden der Chefelektriker, der technische Leiter des Senders und der Chef der Abteilung Kultur zur Besprechung dazu gerufen um konkret zu klären, wie der Starkstrom zu unserer Bühne fließt. Am Schluss heißt der Deal: Wenn wir 400 Meter Kabel besorgen, wird der Sender jeden Abend zur Vorstellung Starkstrom durch diese Kabel schicken.

Zmnako spielt
Muzafar Subhdam
© Paolo Accardo

Wenn es nicht so ein dummes Wortspiel wäre, würde ich sagen: Wir verlassen den Sender elektrisiert, jedenfalls sind wir in Hochstimmung. EINE Frage von ungefähr 128 ist geklärt, Zmnako ist stolz, wir sind dankbar. Ab jetzt wird mir dieser charismatische Schauspieler immer im Spaß drohen: Wenn du heute Abend die Probe wieder überziehst, ziehe ich dir 5 Ampère ab.

Stefan Otteni

Probentagebuch Nr. 7

Während wir uns morgens dem Sprachunterricht der Kloster- Schwestern anschließen – und zum Beispiel so lebenspraktische Dinge wie das »Gegrüßet Seist Du Maria« auf Arabisch lernen (während vor dem Fenster der Klosterbibliothek der Muezzin ruft), gehen die Proben trotz Erdogan- Einmarsch und Schauspielerverlust weiter voran. Die Schauspieler fangen langsam an, an das Prinzip der Gruppe zu glauben. Die Gruppe, die im Stück die Geschichte des Vaters, der seinen im Krieg verlorenen Sohn sucht, als Kollektiv erzählt. 

Die Darsteller von Mohamad Glasherz und seinem Vater Slemani der Große
© Paolo Accardo

Das Stück passt fast zu gut zur aktuellen Entwicklung im Land. Bei der Textverteilung stellt sich uns immer wieder die Frage: Soll man den Spielern gerade die Textzeilen geben, die sie und ihre Verwandten direkt betreffen (»- wir müssen erzählen von der Ausradierung ganzer Dörfer, Städte und Familien«) – oder überfordert man sie damit nur? Wir merken: es gibt dafür keine Regeln. Immer wieder werden die Proben überlagert durch diese, für die Schauspieler enorm wichtigen Fragen: Sollen wir ein Lied auf Kurmanji singen, der lokalen Kurdensprache im umkämpften, von »Säuberungen« bedrohten Kurdengebiet in Nordsyrien? Als Protest gegen die Zerstörung dieser Kultur? Was hält das Stück aus? Was sprengt das Ensemble? 

Immer ist klar: Wenn wir uns hier an diesem sensiblen Ort mit unserem Theater auf die Position der reinen Kunst zurückziehen würden, hätten wir verloren. Nicht, dass wir das wollten, aber in Deutschland hätte man die Wahl zwischen Positionen von, sagen wir Milo Rau an einem Ende des Spektrums und vielleicht Herbert Fritsch am anderen. Hier nicht. Und immer gilt auch: wenn grundsätzliche Überlegungen Ruhe und kühlem Kopf verlangen, werden praktische Entscheidungen drängender. Spielen wir im ersten oder dritten Stock der Tabakfabrik? Kann man dort eine Küche hinter der Bühne einrichten? Kann man im November in den Flüchtlingscamps noch draußen spielen – oder riskiert man in einem Herbstgewitter zusammen mit den Geflüchteten im Schlamm zu versinken? 

Und vor allem: Was heißt Happy Birthday auf Arabisch?

Stefan Otteni

Probentagebuch Nr. 6

Mittlerweile gehen die ganz praktischen Problemlösungen weiter: Wie bekommen wir im Spielort der Alten Tabakfabrik Starkstrom? Können wir den Fernsehsender auf dem Gelände nebenan um einige 100 Ampère anzapfen? Wer kennt jemanden, der dort jemanden kennt? Und: Das Stück handelt immer wieder von Krieg und Soldaten: Wo bekommen wir ein Gewehr für die Vorstellung her? Wird die Nonne und überzeugte Pazifistin Friederike, die eine Kriegerin spielt, mit einem Gewehr hantieren? Lauter Fragen, die sich in Deutschland nicht stellen würden: Für das Gewehr würde am deutschen Stadttheater die Requisiten-Abteilung einen Katalog rausziehen, aus dem man sich einen täuschend echten Kalaschnikow-Nachbau aussucht: Für jeden Schauspieler würde in Deutschland der Satz genügen: „Du bist doch Profi.“ Hier ist weder das eine noch das andere selbstverständlich. Das ist kompliziert und anstrengend, aber auf den zweiten Blick eigentlich schön: In einem Land, das von Gewalt zerfleischt wird, ist die Beschaffung eines Gewehrs seltsamerweise ein Riesending. Aber dann auch wieder nicht: Warum nicht einfach die Peschmerga-Kämpfer fragen, die Tag und Nacht mit MGs das Kloster bewachen, die uns immer lachend grüßen, uns Tee und auch schon mal Spiegeleier anbieten? Sie sagen: „Kein Problem, eine alte kaputte MG findet sich immer.“ Ich glaube es erst, wenn ich es sehe.  

Friederike
© Paolo Accardo

Und Friederike, die Pazifistin?  „Kein Problem“, sagt sie. Wenn wir damit leben können, dass sie es nicht besonders soldatisch zusammensetzen kann? Können wir. Außerdem lernt sie den ganzen Text auf arabisch. Wir sind begeistert. Und lernen – nicht im Arabisch-Unterricht –  „Mafi Mushkile“, kein Problem, ist der am liebsten verwendete Ausdruck in diesem Land. 

Stefan Otteni

Probentagebuch Nr. 5

Nachdem unsere Gruppe durch das Verlassen von wichtigen Spielern erschüttert worden war, müssen wir für zwei wichtige Rollen im Stück neue Schauspieler suchen. Die nächsten Tage sind also, bei laufendem Probenbetrieb, bestimmt von Treffen mit Schauspielern und vor allem Besuchen in den Theaterschulen der Stadt. (Ja, es gibt eine Akademie für Theater und Tanz in Sulaymaniyah, in der man im Foyer von einem riesigen Beckett-Portrait begrüßt wird.)  

Das hat den schönen Nebeneffekt, dass wir noch mehr Kontakt zu der hiesigen Künstlerszene bekommen. Auf dem Campus der Kunstakademie wie die bunten Hunde bestaunt, sitzen wir brav und interessiert morgens im Büro des Theaterstudiengangs, schildern unser Anliegen – und werden erstmal dafür gelobt, dass wir uns ausgerechnet einen Roman des berühmtesten Sohns der Stadt ausgesucht haben. Als wär‘s ein Stück von Shakespeare, kennen alle die zentralen Figuren des Romans und überlegen mit uns, welchem Studenten man so etwas Anspruchsvolles anvertrauen könnte. Mehrere Professoren bieten sich, in völliger Verkennung ihres Alters und Bauchansatzes, selbst für die Rolle des jugendlichen Liebhabers Mohamad Glasherz an – aber wir haben unsere Blicke schon auf zwei junge Schauspieler geworfen, mit den wir gerne zur Probe arbeiten würden.

Auffällig überall die Hilfsbereitschaft, mit der unserem Problem begegnet wird: ganz selbstverständlich bitten uns Bewegungsprofessoren, Schauspiellehrer, Jahrgangsleiter in ihren Unterricht – so bekommen wir unverhofft einen Einblick in die Ausbildung junger Schauspieler. Fragen sie am Ende des Unterrichts vor versammelter Klasse noch ganz brav, ob man bei uns in Deutschland mehr nach Stanislawski oder Brecht unterrichtet – sind dann nach der Stunde auf dem Flur die Fragen plötzlich ganz andere: „Könnte ich es in Deutschland als Schauspieler schaffen?“ Wir versuchen zu erklären: Eher sind es die strengen Regeln der deutschen Behörden, die euch Probleme machen werden. Gerührt von der Offenheit und Verletzlichkeit, vom Optimismus dieser jungen kurdischen Künstler, laden wir die beiden Interessantesten zum Vorsprechen ins Kloster ein.

Stefan Otteni

Die erste Zuschauerin während der Proben im Kloster  © Harem Bahaddi

Probentagebuch Nr. 4

Erdogan ist einmarschiert – und hat als erstes die Stadt Qamishli bombardiert, die Heimatstadt von vier unserer Schauspieler an der syrisch-türkischen Grenze. Aus unserer Perspektive hier vor Ort möchte man Klaus Kleber in den Tagesthemen dafür schlagen, dass er und viele deutsche Medien immer noch von einer »Sicherheitszone« reden. Viele Telefonate, viele Unterbrechungen der Probe, viele übernächtigte Gesichter und verweinte Augen – dann die Nachricht, die alles zu kippen droht: Ein Schauspieler steigt aus, er hat das Gefühl, er kann die vielen Anrufe während der Proben nicht mehr wegdrücken – er muss bei seinen Freunden sein, sonst machen sie Dummheiten und schließen sich noch einer bewaffneten Miliz an. Es ist ausgerechnet der Spieler der Rolle Mohammad Glasherz, der Junge, der im Buch so zart ist, dass sein Herz bei der ersten Erschütterung bricht und er verblutet, was seinen Vater, einen tapferen Peschmerga-Anführer, in die Verzweiflung treibt. Ihn haben die Ensemblekollegen vor zwei Tagen noch als Flut auf den Schultern getragen – nun ist er weg. Jeder versteht ihn, keiner weiß weiter. Wir als deutsche Pragmatiker fangen an, die kurdischen Regisseure anzurufen, die wir kennen, wir knüpfen Kontakt zur Schauspielschule vor Ort, wir fragen Freunde von Freunden. Wer kann diesen charismatischen liebenswerten Sufi ersetzen, der uns gerade von der Weltpolitik entrissen wurde? Die Nacht endet bei allen in Ratlosigkeit und Wut: Erdogan, geh aus unserem Leben.

Stefan Otteni